Merkels sieben Sünden – Teil 3: Deutsche Alleingänge

Wie fällt die Bilanz von Kanzlerin Merkel in der Europapolitik aus? Die Erfolge werden breit gewürdigt – wir wollen uns daher auf die Misserfolge und Sünden konzentrieren. Teil 3: Deutsche Alleingänge.

Die scheidende Kanzlerin galt in Berlin und Brüssel lange Zeit als “ehrliche Maklerin” der Europapolitik, die den Laden zusammengehalten und die Regeln geachtet habe. Auf dem Höhepunkt ihrer Macht hat der Politikwissenschaftler H. Münkler diese These sogar konzeptionalisiert.

Deutschland sei die unverzichtbare Macht in der Mitte” und müsse EUropa führen, schrieb Münkler1. Doch die Dialektik zwischen dem “deutschen Europa” und einem “europäischen Deutschland (der Soziologe U. Beck2) hat einen Haken: Merkel neigte zu Alleingängen, sie handelte längst nicht immer europäisch, sondern sehr oft sehr deutsch.

Dies begann bei der Bankenrettung, die Merkel und ihr Ex-Finanzminister Steinbrück ohne Absprache mit den EU-Partnern organisierten – und es reicht bis zur Coronakrise, bei der deutsche Unternehmen die höchsten Subventionen kassieren und die deutschen Grenzen am “besten” geschützt werden – zur Not auch gegen die EU-Institutionen in Brüssel.

Nord Stream 2, der Ausstieg aus der Atomkraft, der deutsche Vorstoß zum Grexit, der Alleingang in der Flüchtlingskrise 2015 und der Türkei-Deal 2016 sind weitere Beispiele für den unilateralen Führungsstil, der sich große Freiheiten mit den EU-Regeln nahm und manchmal den Eindruck erweckte, Merkel habe es auf einen “Coup” angelegt.

Gewiss, manches hat sich hinterher als zuträglich erwiesen. Dass Deutschland mehr als eine Million Flüchtlinge aufnahm, wird Merkel als historische Leistung angerechnet, die Europas Würde gerettet habe. Der Türkei-Deal, den Merkel ohne Brüssel aushandelte, wurde schließlich von der EU abgesegnet; er soll sogar verlängert werden.

Anderes hat der Union schwer geschadet. Die Ostsee-Pipeline hat das Vertrauen der Osteuropäer erschüttert und sogar das Verhältnis zu den USA belastet. Dass Merkel es zuließ, dass ihr Finanzminister den Grexit plante, führte zu großen Spannungen. Der deutsche Ausstieg aus der Atomkraft erschwert eine europäische Energie- und Klimapolitik.

Ist die EU nur ein Vehikel für deutsche Interessen?

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Das eigentliche Problem liegt jedoch woanders. Es liegt darin, dass Merkel die deutsche Rolle in der EU nie klar bestimmt und auch nie gesagt hat, wo es mit der EU hingehen soll. Liegt in der Vollendung der europäischen Einheit der letzte Zweck deutscher Außenpolitik – oder ist die EU nur ein Vehikel, um die deutsche Vormacht in Europa zu stärken?

Sind die Regeln nur dann zu beachten, wenn sie von Deutschland gemacht werden – oder gelten sie auch dann, wenn sie deutschen Interessen im Wege stehen? Kann Berlin im Umgang mit Russland, China oder der Türkei nationale Sonderinteressen geltend machen – oder muß sich auch die deutsche Bundesregierung am europäischen Interesse orientieren?

Diese Fragen treiben viele EU-Partner um, wie wir zuletzt im Streit um Nord Stream 2 und um ein Investitionsabkommen mit China gesehen haben. In beiden Fällen ist der Eindruck entstanden, Deutschland setze seine Interessen rücksichtslos durch und scheue nicht davor zurück, über Bande zu spielen – mit den USA bei Nord Stream, mit China beim Handel.

In europäischem Interesse ist das nicht – was Berlin nützlich erscheint, ist längst nicht immer auch für Brüssel gut. Doch wie wäre ein solches europäisches Interesse zu definieren? Dies gehört sicher zu den spannendsten Fragen der Nach-Merkel-Ära. Um sie zu beantworten, müßte die deutsche Politik aufhören, eine Interessen-Kongruenz vorauszusetzen.

Mit anderen Worten: Wir dürfen nicht länger so tun, als sei alles, was Deutschland sagt und macht, gut für “die EU” – nur, weil Merkel uns daran gewöhnt hat…

Literaturhinweise

1 H. Münkler: Die Macht in der Mitte, Edition Körber 2015

2 U. Beck: Das deutsche Europa, Suhrkamp 2012

Teil 1 der Serie über die europapolitischen Sünden steht hier. Mehr zu Merkel hier, mehr EU-Bücher hier