Die schöne Fassade steht noch – doch die EU wurde total entkernt

Was bleibt von 2024? Eine ungeschminkte Bilanz der Europapolitik im vergangenen Jahr.

Zwölf Mal haben wir Sie in den vergangenen Wochen mit unseren Rückblicken auf 2024 traktiert. Das vergangene Jahr stand, wie die meistgelesenen Artikel aus diesem Blog gezeigt haben, ganz im Zeichen des Ukraine-Kriegs und der Europawahl. Zu Beginn des neuen Jahres wollen wir noch einmal kurz Bilanz ziehen.

Beginnen wir mit dem Positiven. Bei der Europawahl hat die “Mitte” – also das Kartell der etablierten, EU-freundlichen Parteien – gehalten. Rechte und EU-Gegner sind zwar stärker geworden, doch im neuen Parlament gibt weiter die konservative Europäische Volkspartei um EVP-Chef Manfred Weber den Ton an.

Kommissionschefin von der Leyen kann weitermachen – wenn auch nur mit einer Koalition, die für ihr Überleben wahlweise auf die Grünen oder auf die rechtskonservative EKR angewiesen ist. Immerhin, für eine Fortsetzung ihrer Ukraine-Politik reicht’s. Die EU habe sich gut behauptet, heißt es in Brüssel.

Sündenbock Putin

Angesichts des “Angriffskriegs” gegen die Ukraine und des “hybriden Kriegs” gegen Europa, den Kremlchef Wladimir Putin führe, sei dies die Hauptsache. Ähnlich klingt es in Berlin, wo sich Wirtschaftsminister Robert Habeck gegen Kritik mit dem Argument wehrt, er habe Deutschland im “Energiekrieg” gerettet.

Dass das größte EU-Land in die Rezession abgerutscht ist und die EU wirtschaftlich an Boden verliert, kommt bei diesem schwarz-grünen Eigenlob nicht vor. Der Krieg um die Ukraine und das Feindbild Putin sollen offenbar von den eigenen Problemen ablenken – und die EU zusammenhalten.

Der Niedergang

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Doch nicht nur wirtschaftlich steckt die EU, die einst mit dem Versprechen angetreten war, den Wohlstand zu mehren und den Frieden zu sichern, in einer tiefen Krise. Auch in anderen Bereichen ist der Niedergang nicht mehr zu übersehen, wie die folgende stichwortartige Übersicht zeigt.

  • Menschenrechte: Die EU hat zur Ukraine gehalten – doch über die israelischen Kriegsverbrechen in Gaza hat sie geschwiegen. Damit wurden nicht nur Doppelstandards offenbart – Russland wird völlig anders beurteilt als Israel. EUropa hat auch seinen universellen menschenrechtlichen Anspruch verwirkt. 2024 war für den Westen das Jahr des moralischen Bankrotts, schreibt J. Mearsheimer. Doch während US-Präsident Joe Biden abgewählt wurde, macht von der Leyen einfach weiter…
  • Demokratie und Rechtsstaat: Von der Europawahl über die Landtagswahlen in Deutschland bis hin zur annullierten Präsidentschaftswahl in Rumänien hat das “Superwahljahr 2024” gezeigt, dass die Demokratie in einer tiefen Krise steckt. In Deutschland und Frankreich haben die Regierungen die Mehrheit verloren. Auch der Rechtsstaat ist in Gefahr – nicht nur in Budapest, sondern auch in Brüssel, wie die Ermittlungen der Justiz gegen von der Leyen und ihren früheren Justizkommissar Reynders zeigen.
  • Wirtschaft: Hier ist der Niedergang am offensichtlichsten. 2024 war das Jahr, in dem Volkswagen den Offenbarungseid leistete, die Stahlindustrie einbrach und die “sauberen” neuen Industrien nach China oder in die USA abgewandert sind. Der “Green Deal” wurde zum industriefreundlichen “Clean Industrial Deal” umgemodelt, der Wirtschaftskrieg wurde von Russland auf China ausgeweitet. Damit wird die EU noch abhängiger von den USA – und das kurz vor Trump 2.0…
  • Geopolitik: Die EU hat ihre Außenpolitik in den Dienst der Ukraine gestellt und mußte zwei schwere Niederlagen hinnehmen. Zum einen ist das ukrainische Kriegsziel – die Rückkehr zum status quo ante – nicht mehr erreichbar. Zum anderen wird auch das EU-Ziel – die USA abzulösen – verfehlt, wie Präsident Selenskyj erklärte. Weniger spektakulär, aber ebenso wichtig ist der Rückzug Frankreichs aus Afrika. Er zeigt, dass der globale Einfluß schwindet, statt auf die EU hört der globale Süden auf die BRICS…
  • Europäische Einigung: Im Streit mit Ungarn um die Ukraine haben sich tiefe Risse in der EU offenbart. Regierungschef Viktor Orban wird in Brüssel behandelt, als sei er ein Gegner – kein gleichberechtigter Partner. Aber auch sonst ging es nicht voran. Die Erweiterung tritt auf der Stelle, die Annäherung an Georgien wurde auf Eis gelegt. Von Vertiefung ist gar keine Rede mehr, was angesichts der deutsch-französischen Krise kaum noch erstaunt. Selbst die versprochene EU-Reform wurde auf 2025 vertagt.

Fazit: Bei der Europawahl 2024 haben von der Leyen & Co. gerade noch so die Kurve gekriegt. Nach außen hin läuft seither alles wie gewohnt, die Institutionen scheinen sogar wieder besser zu funktionieren. Der neue Ratspräsident Antonio Costa wurde bei seinem ersten EU-Gipfel im Dezember allseits gelobt.

Doch die Politik liefert nicht mehr die versprochenen Ergebnisse; die “Output”-Legitimierung funktioniert ebenso wenig wie die Legitimierung durch Wahlen. Und die Ziele und Inhalte der Europapolitik wurden – gemessen an der historischen Mission der EU – weitgehend in ihr Gegenteil verkehrt…

Die Fassade steht noch, der Schein wurde gewahrt. Doch ansonsten war 2024 ein Debakel für EUropa. Was das für 2025 und die neue Legislaturperiode bedeutet, die bis 2029 geht, habe ich in meinem neuen Essay aufgeschrieben. Das E-Book unter dem Titel “Die Kommission der letzten Chance” gibt es hier.

Siehe auch Krise, Krieg und Trump: EUropa steht mit dem Rücken zur Wand