Best of 2023 (01/10): Verheugen und der Krieg um die Ukraine

Der frühere EU-Kommissar Verheugen hat in einem Interview ein Ende des “Gemetzels” in der Ukraine gefordert. Es ist weiter aktuell – genau wie unsere Anmerkungen zum Drang der EU nach Osten.

Blogpost vom 29.08.23

Wer immer sich heute für ein Ende des Krieges, einen Waffenstillstand oder Verhandlungen ausspricht, wird als “nützlicher Idiot Putins” diffamiert. Selbst Günter Verheugen, immerhin ehemaliger EU-Kommissar, macht da keine Ausnahme.

Es ist sinnlos, sich mit diesen Schmähungen auseinander zu setzen. Verheugen hat dies auch gar nicht nötig – schließlich ist er bei den Themen EU-Erweiterung und Russland-Politik eine Autorität. Er hat alles selbst miterlebt und gestaltet.

Der Sozialdemokrat war von 1999 bis 2004 als EU-Kommissar für die Erweiterungspolitik zuständig, danach bis 2010 für Industriepolitik. Zuvor hat er in der SPD die Außen- und Sicherheitspolitik geprägt, die er vor allem als Entspannungspolitik begriff.

Wie beurteilt er heute die Lage? Völlig anders, als wir es von der EU-Kommission oder der Bundesregierung hören. Die Ukraine verteidige nicht Europa oder die EU, sagt er, und der Krieg sei auch kein Systemkampf zwischen Demokraten und Autokraten.

Es geht nicht um Ihre oder meine Sicherheit. Wegen meiner Freiheit und zur Verteidigung meiner demokratischen Rechte muss kein Mensch in der Ukraine sterben. Meine Freiheit ist nicht durch Russland bedroht. Schon allein das zu sagen, bringt einen heute in den Verdacht, ein nützlicher Idiot des Kremls zu sein. Deshalb, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Es besteht kein Zweifel daran, dass Russland der Aggressor ist, Verträge und Grundsätze verletzt hat, die das friedliche Zusammenleben in Europa regeln sollen. Aber man muss die Vorgeschichte dieses Kriegs kennen, um sich ein sachliches Urteil zu bilden.

Interview im Weserkurier

Die verdrängte Vorgeschichte

Zu dieser Vorgeschichte gehört Verheugen zufolge, dass der Umsturz auf dem Maidan 2014 ein “vorbereiteter Staatsstreich” war – und dass die Ukraine “nicht einen Tag lang ernsthaft daran gedacht” habe, die Minsk-Abkommen umzusetzen.

Doch diese umstrittene Vorgeschichte wird regelmäßig ausgeblendet. In der deutschen Debatte ist sie tabu. Manchmal hat man das Gefühl, die “Zeitenwende” erfülle vor allem den Zweck, alles, was vor dem Krieg passierte, zu verdrängen.

Das gilt nicht nur für die Entspannungspolitik, an die Verheugen zurecht erinnert, sondern auch für die EU-Osterweiterung, die er interessanterweise ausblendet. War die Aufnahme Polens und der baltischen Länder womöglich ein Fehler?

Der deutsche Drang nach Osten

Hätte man es nicht besser vermieden, Länder hinein zu holen, die noch eine Rechnung mit ihrem großen Nachbarn offen haben? Und was ist mit der Östlichen Partnerschaft und der forcierten Heranführung der Ukraine an die EU?

All das war deutsche Politik. Frankreich und die südlichen EU-Länder hatten andere Prioritäten, etwa die Mittelmeerunion. Deutsche Politik war auch die Annäherung mit Russland – von der Kulturpartnerschaft bis Nord Stream 1 und 2.

Doch nur die Russland-Politik wird heute verdammt. Sogar die deutschen Friedensbemühungen (Minsk) werden negiert. Die Expansion nach Osten hingegen wird nicht infrage gestellt. Dabei gehört auch sie zur Vorgeschichte des Krieges.

Nun soll die Ost-Erweiterung sogar vorangetrieben werden – mit dem Beitritt der Ukraine und einem neuen “Big Bang” bis 2030. Verheugens Politik wird fortgesetzt, wenn auch unter völlig anderen Vorzeichen…

Update

Die Ost-Erweiterung wurde beim EU-Gipfel im Dezember vorangetrieben, mit grünem Licht für Beitrittsgespräche mit der Ukraine und Moldau sowie dem Kandidatenstatus für Georgien. – Siehe auch “EU-Beitritt der Ukraine: Geopolitik und Größenwahn” und “Mit teuren Tricks in eine andere EU”