Verheugen, der Krieg und der unbändige Drang nach Osten
Der frühere EU-Kommissar Verheugen hat in einem Interview ein Ende des “Gemetzels” in der Ukraine gefordert. Dafür wird er wie üblich diffamiert. Interessanter sind seine Aussagen zur Vorgeschichte des Krieges.
Wer immer sich heute für ein Ende des Krieges, einen Waffenstillstand oder Verhandlungen ausspricht, wird als “nützlicher Idiot Putins” diffamiert. Selbst Günter Verheugen, immerhin ehemaliger EU-Kommissar, macht da keine Ausnahme.
Es ist sinnlos, sich mit diesen Schmähungen auseinander zu setzen. Verheugen hat dies auch gar nicht nötig – schließlich ist er bei den Themen EU-Erweiterung und Russland-Politik eine Autorität. Er hat alles selbst miterlebt und gestaltet.
Der Sozialdemokrat war von 1999 bis 2004 als EU-Kommissar für die Erweiterungspolitik zuständig, danach bis 2010 für Industriepolitik. Zuvor hat er in der SPD die Außen- und Sicherheitspolitik geprägt, die er vor allem als Entspannungspolitik begriff.
Wie beurteilt er heute die Lage? Völlig anders, als wir es von der EU-Kommission oder der Bundesregierung hören. Die Ukraine verteidige nicht Europa oder die EU, sagt er, und der Krieg sei auch kein Systemkampf zwischen Demokraten und Autokraten.
Es geht nicht um Ihre oder meine Sicherheit. Wegen meiner Freiheit und zur Verteidigung meiner demokratischen Rechte muss kein Mensch in der Ukraine sterben. Meine Freiheit ist nicht durch Russland bedroht. Schon allein das zu sagen, bringt einen heute in den Verdacht, ein nützlicher Idiot des Kremls zu sein. Deshalb, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Es besteht kein Zweifel daran, dass Russland der Aggressor ist, Verträge und Grundsätze verletzt hat, die das friedliche Zusammenleben in Europa regeln sollen. Aber man muss die Vorgeschichte dieses Kriegs kennen, um sich ein sachliches Urteil zu bilden.
Interview im Weserkurier
Die verdrängte Vorgeschichte
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Zu dieser Vorgeschichte gehört Verheugen zufolge, dass der Umsturz auf dem Maidan 2014 ein “vorbereiteter Staatsstreich” war – und dass die Ukraine “nicht einen Tag lang ernsthaft daran gedacht” habe, die Minsk-Abkommen umzusetzen.
Doch diese umstrittene Vorgeschichte wird regelmäßig ausgeblendet. In der deutschen Debatte ist sie tabu. Manchmal hat man das Gefühl, die “Zeitenwende” erfülle vor allem den Zweck, alles, was vor dem Krieg passierte, zu verdrängen.
Das gilt nicht nur für die Entspannungspolitik, an die Verheugen zurecht erinnert, sondern auch für die EU-Osterweiterung, die er interessanterweise ausblendet. War die Aufnahme Polens und der baltischen Länder womöglich ein Fehler?
Der deutsche Drang nach Osten
Hätte man es nicht besser vermieden, Länder hinein zu holen, die noch eine Rechnung mit ihrem großen Nachbarn offen haben? Und was ist mit der Östlichen Partnerschaft und der forcierten Heranführung der Ukraine an die EU?
All das war deutsche Politik. Frankreich und die südlichen EU-Länder hatten andere Prioritäten, etwa die Mittelmeerunion. Deutsche Politik war auch die Annäherung mit Russland – von der Kulturpartnerschaft bis Nord Stream 1 und 2.
Doch nur die Russland-Politik wird heute verdammt. Sogar die deutschen Friedensbemühungen (Minsk) werden negiert. Die Expansion nach Osten hingegen wird nicht infrage gestellt. Dabei gehört auch sie zur Vorgeschichte des Krieges.
Der nächste “Big Bang”
Nun soll die Ost-Erweiterung sogar vorangetrieben werden – mit dem Beitritt der Ukraine und einem neuen “Big Bang” bis 2030. Verheugens Politik wird fortgesetzt, wenn auch unter völlig anderen Vorzeichen…
P.S. Ex-Kanzler Schmidt hat der EU schon 2014 vorgeworfen, “größenwahnsinnig” geworden zu sein. “Das jüngste Beispiel ist der Versuch der EU-Kommission, die Ukraine anzugliedern”, sagte er. Schmidt sollte recht behalten. Verheugen versuchte damals noch, die EU (und sein eigenes Werk) zu rechtfertigen…
KK
4. September 2023 @ 12:28
@ Klaus M.:
“Sicher wird es Versuche geben, ihn zu diffamieren. Weil er aber vielen…aus dem Herzen spricht, wird das wohl so einfach nicht gelingen.”
Ein Termin bei Lanz gegen eine Handvoll Gegenkrakeeler inklusive dem Moderator, der dem Delinquenten bei jeder Gelegenheit ins Wort fällt, und es wird bei der Mehrheit der Zuschauer auch bei Verheugen wieder gelingen! Wurde ja schon öfter demonstriert.
Monika
4. September 2023 @ 10:46
…genau hinzusehen: viele, die meisten Polen und Balten wussten bis zum Angriff auf die Ukraine gar nicht, dass ihr Land noch eine offene Rechnung mit Russland hatte. Diese offenen Rechnungen haben Politiker – und nur die – aus den verschiedensten, oft auch recht banalen Gründen ( z.B. Wahlkämpfe) aufgemacht , an den vitalen Interessen der jeweiligen Bevölkerungen vorbei…
Dieser Satz von Katla fasst die ganze Crux jedes „politischen Spiels“ zusammen. Sammle Menschen mit skrupeloser Goldgräbermentalität um einen propagandistischen Kondensationskern einer „offenen Rechnung“ aus der „Geschichte“, und verhelfe ihnen zu „Verdienstmöglichkeiten“. Wie Metastasen werden sie die jeweiligen Bevölkerungen, egal in welchem gesellschaftlichen System !, durchsetzen. Es endet dann immer in einer Art Endkampf „um alles oder nichts“. Das Nichts bleibt zuverlässig den sogenannten kleinen Leuten. Und die interessieren sowieso niemanden aus dieser Kaste der Goldgräber samt ihrer eigens ausgebildeten Politdarsteller, (ganz „offiziell“ seit young global leader Baerbocks „egal was meine Wähler sagen…“). Darin gipfelt die ganze „Staatskunst“ US-amerikanischer Prägung, diese Kondensationskerne weltweit zu streuen und anfänglich finanziell „zu betreuen“, um sich dann, als Gegenleistung, militärische Stützpunkte finanzieren zu lassen. Die EU durfte auch ein bisschen mitspielen, solange sie die US-Vorherrschaft sichern half, als das bröckelte wurde kürzlich „der Sack zu gemacht“. Der militärisch industrielle Komplex der USA hat die Westherrschaft allein übernommen, und strebt weiter nach der globalen Herrschaft. (als einzige Nation auf diesem Planeten!) Eisenhowers Sorge war berechtigt.
Klaus M.
4. September 2023 @ 08:17
Herr Verheugen hat hier ein sehr fundiertes Interview gegeben. Lange erwartet. Sicher wird es Versuche geben, ihn zu diffamieren. Weil er aber vielen – nicht nur in der SPD sondern auch in der Bevölkerung – aus dem Herzen spricht, wird das wohl so einfach nicht gelingen. Für mich nicht überraschend ist, dass solche Überlegungen von „alten“ Sozialdemokraten – wie auch Helmut Schmidt – formuliert werden – und vielleicht noch von Herrn Mützenich. Schauen wir mal
european
30. August 2023 @ 08:21
Big Bang? Naja. Wir sollten aufpassen, dass daraus kein Totenglöckchen wird 😉
Die Investorenseite, die russia-briefing, china-briefing etc. betreibt, pflegt auch die Seite silkroad-briefing und da waren gestern zwei bemerkenswerte Artikel zu lesen. Der eine befasst sich mit den G20 und ob die BRICS mit dem Westen auf Konfrontationskurs gehen werden, insbesondere nachdem nun die USA versucht, Russland auch aus den G20 zu werfen. Diese Macht scheint nun deutlich zu schwinden. Es ist nicht nur keine Rede mehr davon, sondern die BRICS in den G20 haben vor, zusätzlich noch Afrika eine Stimme zu geben und die African Union, die 55 Länder vertritt, ebenso aufzunehmen, wie die EU bereits Mitglied der G20 ist.
https://www.silkroadbriefing.com/news/2023/08/29/will-the-brics-confront-the-west-at-the-g20/
In diesem Artikel taucht zum ersten Mal der Begriff “expanded BRICS” auf, der in einem weiteren Artikel näher erläutert wird. Die BRICS haben gerade 6 neue Mitglieder aufgenommen, was für sich genommen schon mal ein großer Schritt ist. Was niemandem so richtig bewusst ist, ist, dass jedes dieser Länder eingebunden ist in Freihandelszonen oder Vereinigungen, z.B. Mercosur. D.h. es wurden 6 Länder aufgenommen, die einen Einflussbereich von 84 Ländern mitbringen, d.h. wir reden von der halben Welt, was die Anzahl der Staaten anbetrifft.
https://www.silkroadbriefing.com/news/2023/08/28/the-expanded-brics-84-countries-with-a-collective-gdp-of-us83-5-trillion/
Dagegen wirken unsere Schnellaufnahmen von Moldavien und Co. (“Das ärgert Putin”) wie ein schlechter Scherz. Wen interessiert das denn noch, insbesondere vor dem Hintergrund, dass die EU kein ökonomisches Modell mehr hat und im Augenblick eher mit großen finanziellen Problemen zu kämpfen hat. Man hört von 87 Milliarden Nachschlagsforderungen.
Arthur Dent
30. August 2023 @ 07:51
Lieschen Müller und Karl-Otto Mustermann profitieren nicht von riesigen Freihandelszonen, nirgends auf der Welt. Die können immer nur leichter ausgebeutet werden. Von solchen Konstrukten profitiert immer die Hochfinanz. „Profit over People“.
Kleopatra
30. August 2023 @ 07:05
Irritierend finde ich zunächst, dass Verheugen plötzlich auftaucht „wie Kai aus der Kiste“. Wie lange hat man denn in der Öffentlichkeit schon nichts mehr von ihm gehört?
@ebo: Zu Ihren Vorwürfen an die Balten und Polen, dass sie nicht die Versöhnung mit Russland gesucht hätten: die Sowjetunion hat sich im September 1939 auf der Grundlage des Geheimprotokolls zum Hitler-Stalin-Pakt dem Überfall auf Polen angeschlossen und nachfolgend die baltischen Staaten gewaltsam annektiert sowie von dort signifikante Teile der Bevölkerung nach Russland deportiert. Warum Polen und die baltischen Staaten eine „Versöhnung“ mit Russland suchen müssten, ist insofern nicht einsichtig. Eher ist von Russland zu erwarten, dass es unmissverständlich und unzweideutig konzediert, dass es (bzw. die SU, in deren Nachfolge es steht) sich hier an einer verbrecherischen Politik beteiligt hat. Hierzu ist Russland nicht bereit, weil für sie das Baltikum und Polen nur Territorien sind, in denen man russische Macht projizieren will oder die man als Glacis für etwaige Kriege mit Westeuropa besetzen will. Viele Russen haben nie akzeptiert, dass andere Länder selbstständig sind und dass Teile des ehemaligen Zarenreiches eben nicht Russland sind. Schwachsinnige Behauptungen wie die, dass die Gebiete, die nach dem ersten WK zu Finnland gehörten, urrussischer Boden seien oder dass die Selbstständigkeit der Ukraine auf eine Amputation Russlands hinauslaufe, konnte man schon 1990/91 hören (Positionen der Staatsspitze wurden sie aber m.W. erst unter Putin). Wie würde es in der westeuropäischen EU wirken, wenn deutsche Politiker ähnliches über das Elsass von sich gäben?
Konsequenterweise könnten Sie dann auch die Aufnahme Finnlands für einen historischen Fehler erklären. Denn Finnland gehört ebenfalls zu den Staaten, die ihre Erfahrungen mit Russland haben (die Verteidigung gegen den sowjetischen Überfall im Winterkrieg 1939/40 ist ein wichtiger Punkt im finnischen Nationalbewusstsein), und während des Kalten Kriegs hatte es den Ruf einer neutralen Brücke zwischen Ost und West (Stichwort „Finnlandisierung“), aber eben wohl eher aus Vorsicht gegenüber der sowjetischen Gefahr als aus Überzeugung. Sobald die SU weg war, sind sie rasch der EU beigetreten und haben damit demonstriert, dass ihnen an der Verbindung mit West- und Mitteleuropa mehr liegt als an der mit Russland.
Russland hat sich dies selbst zuzuschreiben. Keine „soft power“, nur „hard power“ (und oft funktioniert nicht einmal die).
ebo
30. August 2023 @ 10:03
Zu Verheugens Zeiten galt noch der Grundsatz, dass neue Mitglieder keine Konflikte in die EU tragen sollen. Verheugen selbst ging wohl von der Annahme aus, die Beitritte würden zur Entspannungspolitik und guter Nachbarschaft beitragen. Das hat schon bei Zypern nicht geklappt, im Baltikum noch weniger. Und Polen ist heute wieder offen Deutschland-feindlich. Insofern war die Osterweiterung ein Fehler. Doch das will Verheugen natürlich nicht sehen. Übruigens teile ich auch nicht seine Einschätzung, dass man mit Putin reden und an alte Zeiten anknüpfen könne. Aber das ist ein anderes Thema…
european
30. August 2023 @ 11:10
@ebo
Sie haben voellig Recht. Ich glaube auch nicht, dass man mit Russland an alte Zeiten anknuepfen kann, auch wenn es in Deutschland mittlerweile Stimmen auch aus der CDU (Kretschmer) gibt, die fordern, dass Nordstream repariert wird und dass man mit Russland wieder Verhandlungen aufnimmt.
Wenn man sich die aktuellen Entwicklungen in der Welt ansieht, dann haben wir nicht nur schlechte Karten, was unsere Verhandlungsbasis angeht, es gibt auch fuer Russland keinen Grund mehr mit uns zu verhandeln. Warum sollten sie? Europa ist wirtschaftlich im Niedergang, Russland im Aufwind. Ausserdem haben wir bewiesen, dass wir nicht vertrauenswuerdig sind. Wenn wir ehrlich waeren, wuerden wir zugeben, dass wir mit uns auch keine Vertraege mehr abschliessen wuerden. Wir haben uns zum Fussabtreter gemacht und werden auch so behandelt. Wir sind nicht mehr relevant.
KK
29. August 2023 @ 19:49
@ Katla:
“das kratzt ja an den ursprünglichen Gründungsgedanken der späteren EU, denn die ersten beiden, Deutschland und Frankreich, hatten damals auch nicht gerade ungetrübte Zuneigung füreinander empfunden.”
Diesen und weiteren Ausführungen wäre zuzustimmen, wäre Russland nicht von vornherein als ebenso möglicher Beitrittskandidat ausgeschlossen worden. Und ganz besonders von den Polen und Balten, aber auch den Tschechen, Slowaken und Ungarn (alles Länder, die von der damaligen SU mehr oder weniger gewaltsam an Reformen gehindert wurden oder die sogar Teil der SU waren) als Teil der ersten Erweiterungsrunde hat man sich dann wohl auch wohl den vehemntesten Widerspruch gegen jede mögliche weitere Integration Russlands versprochen.
Und ich lege meine Hand dafür ins Feuer, dass auch hierbei Washington die Hand im Spiel hatte.
KK
29. August 2023 @ 19:37
“Das gilt nicht nur für die Entspannungspolitik, an die Verheugen zurecht erinnert, sondern auch für die EU-Osterweiterung, die er interessanterweise ausblendet.”
Natürlich blendet Veheugen die EU-Osterweiterung aus – er hat sie schliesslich als genau hierfür zuständiger EU-Kommissar für Erweiterung in der Kommission Prodi 1999-2004 massgeblich mit zu verantworten!
Katla
29. August 2023 @ 18:55
Einer der Letzten, die aus Überzeugung EUropäer geworden sind und nicht aus (partei)politischem Kalkül oder weil die “Verdienstmöglichkeiten” in Brüssel gut, die Anforderungen aber eher mittelmäßig sind.
Ebo, zu Ihrer Überlegung, ob man die Polen und die Balten besser nicht reingeholt hätte, weil sie noch eine Rechnung mit Russland offen hatten: das kratzt ja an den ursprünglichen Gründungsgedanken der späteren EU, denn die ersten beiden, Deutschland und Frankreich, hatten damals auch nicht gerade ungetrübte Zuneigung füreinander empfunden. Frankreich hatte doch zu Recht noch eine riesige Rechnung mit Deutschland offen!
Ausserdem gibt es im derzeit friedlichen Teil Europas auch noch weitere halbwegs oder ganz offene Rechnungen: Balkan, Ungarn/Rumänien, aber auch Polen/Ukraine. Ob und wann diese Rechnungen überhaupt fällig werden, weiss ja niemand, aber soll man diese Länder deshalb in die
Quarantäne stecken oder ganz auf jegliche Annäherung/Verbindung verzichten?
Aber am wichtigsten finde ich, da genau hinzusehen: viele, die meisten Polen und Balten wussten bis zum Angriff auf die Ukraine gar nicht, dass ihr Land noch eine offene Rechnung mit Russland hatte. Diese offenen Rechnungen haben Politiker – und nur die – aus den verschiedensten, oft auch recht banalen Gründen ( z.B. Wahlkämpfe) aufgemacht , an den vitalen Interessen der jeweiligen Bevölkerungen vorbei. Auch dort ist die veröffentlichte Meinung völlig anders, als die öffentliche Meinung. Ähnlich, wie in Deutschland.
ebo
29. August 2023 @ 20:13
Deutschland und Frankreich haben von sich aus die Versöhnung gesucht. Das kann man von Polen und Russland nicht behaupten. Von den Balten noch weniger.
Die EU hätte daher nach dem Beitritt einen Verständigungsprozess einleiten müssen. Die Nachbarschaftspolitik war ja auch darauf ausgelegt.
Doch dann hat sich die Östlichen Partnerschaft unter Kommissionschef Barroso ganz anders entwickelt – die EU ging weiter auf Expansionskurs.