Wie die EU sich selbst vergaß

Die russische Invasion in die Ukraine hat auch die EU erschüttert. Binnen weniger Tage haben die Politiker in Brüssel alle Prinzipien über Bord geworfen und die ehemalige Friedensunion auf Krieg umgestellt. Ein Rückblick auf die Tage, in denen die EU sich selbst vergaß.

„Wir erleben einen Paradigmenwechsel“ erklärte der Chefsprecher der EU-Kommission, Eric Mamer. „Europa verteidigt die Ukraine, wir stehen an Ihrer Seite“, beteuerte er auf Englisch und Ukrainisch.

„Man sollte nicht zu oft von historischen Entscheidungen sprechen“, meinte der Außenbeauftragte Josep Borrell. „Aber wir haben auf eine Art und Weise reagiert, die sowohl die Europäer als auch die Russen überrascht hat.“

Das war die offizielle Antwort auf die „unprovozierte und unrechtmäßige russische Militär-Aggression“ (so die offizielle Sprachregelung) am 24. Februar. Kurz danach fielen in Brüssel alle Tabus. Die EU vergaß sich selbst – und ihre Regeln und Prinzipien.

Erst wurde die Lieferung von Waffen an die Ukraine beschlossen – die für Peacekeeping-Einsätze gedachte Friedensfazilität diente als Kriegskasse. Dann wurde die Zensur eingeführt – die dafür gar nicht zuständige EU-Kommission ließ RT und Sputnik sperren.

Schließlich brach die EU einen massiven Wirtschaftskrieg vom Zaun. Russland bzw. die führenden russischen Banken wurden aus dem Bankdatensystem SWIFT ausgeschlossen. Außenministerin Annalena Baerbock wollte „Russland ruinieren“. Niemand widersprach.

All dies war atemberaubend. Über Nacht hatte sich die gute alte „Friedensunion“ in ein Kriegsbündnis verwandelt, das nicht nur als „Wirtschafts-Nato“ agierte (über die Sanktionen), sondern selbst in den Krieg eingriff (mit Waffenlieferungen).

Über Nacht kam ein völlig neues Narrativ

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Mich hat das tatsächlich überrascht. Genauso wie der Krieg war auch die europäische Antwort unvorstellbar – obwohl sich bald herausstellen sollte, dass vieles von langer Hand geplant war. Für den Wirtschaftskrieg gab es detaillierte Pläne made in Washington.

Am meisten frappiert hat mich aber die nonchalante Art und Weise, in der die EU von heute auf morgen ihre Politik auf den Kopf stellte. In Berlin waren dafür immerhin noch Krisensitzungen und eine Kanzlerrede nötig (die berühmte „Zeitenwende“).

In Brüssel hingegen ging alles wie von selbst – ohne großen Auftritt, ohne Rede und Gegenrede. Das Narrativ von der Wirtschaftsunion, die alle Konflikte durch Diplomatie und Marktöffnung löst, wurde über Nacht durch ein neues, „geopolitisches“ Skript ersetzt.

Gestern Freihandel, heute Abschottung

In der EU-Kommission stellten dieselben Beamten, die gestern noch auf Globalisierung und Freihandel geschworen hatten, die neuen Wirtschaftssanktionen gegen Russland vor. Früher predigten sie die Abschaffung aller Zölle, nun planten sie die Abschottung.

Berater von Ratspräsident Charles Michel erklärten vor versammelter Presse, dass die EU mit Hochdruck daran arbeite, die Börse in Moskau in den Crash zu treiben. Dieselben Berater hatten sich zuvor als Hohepriester der „Finanzmarkt-Stabilität“ präsentiert.

EU-Diplomaten hatten „Diplomatie“ aus ihrem Wortschatz verbannt. Als ich einen Experten fragte, ob die Sanktionen als Hebel eingesetzt würden, um Verhandlungen einzuleiten, kam er ins Schleudern. Auch das Wort „Verhandlungen“ war tabu!

Niemand äußert den geringsten Zweifel

Die EU hat sich selbst vergessen. Alles, was 60 Jahre lang zu einem heiligen Kanon europäischer Werte und Prinzipien gereift war, galt plötzlich als überholt und unbrauchbar. Und kein einziger Beamter, Berater oder Diplomat äußerte den geringsten Zweifel.

Klar, der Krieg war ein Schock, die „Zeitenwende“ (die besser Rückfall in alte Zeiten hieße) erforderte eine andere Politik. Aber dass man das Kind mit dem Bade ausschütten und die eigene DNA leugnen würde – das macht mich heute noch sprachlos.

Denn die Scholz’sche (oder Orwell’sche?) Wende geht weiter, immer weiter. Heute sind wir schon so weit, dass die EU bereit scheint, jeden Preis für die Ukraine zu zahlen – und die Interessen ihrer eigenen Bürger und Unternehmen hintan zu stellen!

Die Selbstvergessenheit nimmt bedenkliche Ausmaße an…

Siehe auch „Plötzlich einig und kämpferisch: Wie ist es dazu gekommen?“ und „China, Ukraine, Krieg: Wo bleibt das europäische Interesse?“. Ein „Nachruf auf die Friedensunion“ findet sich hier (externer Link zum Makroskop)