Trotz Zeitenwende: EUropa könnte auch anders

Die Zeitenwende ist das Wort des Jahres”, der Bruch mit Russland gilt als alternativlos. Dabei hätten Deutschland und die EU ganz anders auf den Ukraine-Krieg reagieren können.

Es gibt keine Alternative, suggeriert das Wort von der “Zeitenwende”. Was vorher war, gilt nicht mehr und kommt auch nicht wieder. Doch ist dem wirklich so? Hätte die EU in ihrer Antwort auf den Ukraine-Krieg nicht auch anders – vielleicht sogar besser – handeln können? Musste sie sich wirklich in den Krieg fügen und alle nach dem 2. Weltkrieg bewährten Prinzipien der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und der Diplomatie über Bord werfen?

Versuchen wir doch einfach einmal, andere Optionen zu skizzieren. Möglich wird das, indem man die europäischen Interessen und strategischen Ziele ins Auge fasst. Diese werden zwar selten diskutiert, dennoch gibt es sie. Aus diesen Zielen lassen sich dann Handlungsoptionen ableiten – und siehe da: es gab und gibt durchaus Alternativen.

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  • Strategische Ziele im Ukraine-Krieg: Hier könnte sich Brüssel von wenigen Maximen leiten lassen. Keine Ausweitung des Krieges auf die EU. Der Konflikt muss begrenzt und so schnell wie möglich beendet werden. Danach muß eine neue, möglichst inklusive Friedensordnung für Europa geschaffen werden. – Stattdessen hat Brüssel dazu beigetragen, den Konflikt zu verlängern (mit Waffenlieferungen) und auszuweiten (über Sanktionen). Ein Ende des Krieges ist kein Thema – im Gegenteil: Die EU ist de facto Kriegspartei und will so lange durchhalten “wie nötig”.
  • Assoziierung / EU-Beitritt der Ukraine: Aus dem Assoziierungsabkommen, das es schon vor dem Krieg gab, leitet sich keine Beistandspflicht ab. Eine EU-Beitrittsperspektive ist möglich, aber sie wird konditioniert: Verhandlungen können erst nach dem Ende des Krieges beginnen, vor dem Beitritt müssen alle Gebietsfragen gelöst sein. – Dies wäre ein Anreiz für eine Friedenslösung und ein Schutz davor, den Gebietsstreit in die EU zu tragen. Stattdessen entschied sich die EU, ein Land im Krieg zum Beitritts-Kandidaten zu machen – ohne Konditionen!
  • Sanktionen: Die Sanktionen zielen auf eine Beendigung des Krieges, nicht auf die Eröffnung einer neuen Front (Wirtschaftskrieg). Sie treffen zuerst und vor allem das Regime in Moskau und das Militär, nicht Handel und Energie. Sanktionen werden als Tool für Verhandlungen eingesetzt und können bei Erfolg zurückgefahren werden. Die Strafmaßnahmen gelten nur in der EU, nicht weltweit. Brüssel entscheidet allein und folgt nicht Washington. – Dies wäre die Alternative zum globalen, von den USA gesteuerten Wirtschafts- und Energiekrieg, den wir jetzt erleben.
  • Waffen: Die EU liefert keine Waffen, das ist nicht ihre Aufgabe. Deutsche Waffenlieferungen werden an Konditionen und an eine strikte Kontrolle gebunden. Zu den Konditionen könnte z.B. zählen, dass Militärgerät nur zur Wiederherstellung des Status quo ante genutzt werden darf, nicht aber zur Eroberung der Krim oder zu Angriffen auf Russland. – Stattdessen hat sich die EU in einen sinnlosen Wettbewerb mit Nato und USA begeben und von ukrainischen Entscheidungen abhängig gemacht. Sie hat keine Kontrolle über den Verlauf des Krieges .
  • Diplomatie: Die EU setzt weiter auf Diplomatie. Sie beteiligt sich aktiv an allen Foren und Formaten (Verhandlungen in Istanbul, Getreideabkommen, russischer Rückzug aus besetzten Gebieten etc.), drängt auf ein schnelles Kriegsende und setzt ihre Sanktionen als diplomatischen Trumpf ein, um die gewünschten Ergebnisse voranzubringen. – Stattdessen glänzt die EU durch Abwesenheit bei allen Verhandlungen. Sie hat das Feld den USA und der Türkei überlassen und nutzt Diplomatie lediglich, um Druck auf Drittländer auszuüben, was ihrer Glaubwürdigkeit schadet…

All dies und noch viel mehr wäre 2022 möglich gewesen. Es wäre auch eine “Zeitenwende” – aber eine andere, in der die EU ihrer historische Rolle treu bleibt und sich zu einem souveränen geopolitischen Akteur entwickelt. Es ist nicht so gekommen, leider.

Doch sage niemand, es hätte keine Alternativen gegeben…

Siehe auch “China, Ukraine, Krieg: Wo bleibt das europäische Interesse?” Mehr zum Ukraine-Krieg hier