Zehn Zeichen für den Zerfall der EU
Läutet der Brexit den Zerfall der EU ein? Bisher galt die Sorge vor allem einer „Kettenreaktion“, die in vielen EU-Ländern Nationalisten und Separatisten an die Macht bringen könnte. Doch es gibt auch andere Zeichen.
- Das Brexit-Votum gegen EUropa und die Panik, die die politischen Eliten erfasst hat
- Die Ungewissheit, die nun überall herrscht, weil der EU-Gipfel keinen Weg nach vorn aufgezeigt hat
- Die Unfähigkeit der EU, VOR dem Brexit eine positive Vision zu vermitteln (als hätte sie UK schon aufgegeben)
- Die Unfähigkeit der EU, NACH dem Brexit eine positive Vision zu vermitteln (als hätte sie sich schon aufgegeben)
- Die ungewöhnlichen Interventionen der USA, die tiefe Sorge um UK und Europa verraten
- Der Angst vor deutscher Dominanz, bei unverhohlenem deutschen Führungsanspruch
- Der Richtungsstreit innerhalb der GroKo in Berlin und Merkels Unfähigkeit, einen Kurs vorzugeben (zu „führen“)
- Die organisierte Verantwortungslosigkeit und die Suche nach Sündenböcken (Juncker?)
- Der Machtkampf innerhalb der EU-Elite (bis hin zur Frage, wer denn nun mit UK verhandelt)
- Das massive Misstrauen in alle Eliten in (fast) allen Ländern – jüngstes Beispiel: Österreich
Diese Zeichen bedeuten natürlich nicht, dass die EU nun tatsächlich zerfällt. Man sollte die Beharrlichkeit der Macht und die Bindekraft der Institutionen nicht unterschätzen, das hat uns die Eurokrise gelehrt.
Doch je länger die beschriebenen Tendenzen anhalten, sich gar verstärken, desto enger könnte es für diese EU werden. Vielleicht wäre es Zeit für eine andere EU, zumindest für eine andere Politik?
Lina
1. Juli 2016 @ 20:48
Apropos Varoufakis:
Punkt 11
Es gibt in Brüssel eine „Euro-Workinggroup“, die sich zwar NICHT innerhalb der offiziellen EU Institutionen befindet und trotzdem den EU Finanzministern nicht nur alles vorschreibt, sie behandelt sie wörtlich „wie Ungeziefer“.
Ein sehr interessantes, nein, schon beängstigendes Gespräch mit Chomsky:
https://yanisvaroufakis.eu/2016/06/28/full-transcript-of-the-yanis-varoufakis-noam-chomsky-nypl-discussion/
Lina
1. Juli 2016 @ 20:34
Hyperlokal
Dafür braucht es kein ttip oder ceta.
Frag mal was die Griechen unterschrieben haben, als sie die 14 lukrativsten Flughäfen des Landes an Fraport verschenkten.
Skyjumper
1. Juli 2016 @ 20:18
„Vielleicht wäre es Zeit für eine andere EU, zumindest für eine andere Politik? “
Ich glaube nicht dass es mit einer anderen Politik getan wäre. Dafür ist es bereits einige Jahre zu spät. Der Krug der Politik wanderte solange zum Brunnen bis er brach.
Was „die EU“ retten könnte wäre eine Rückbesinnung auf das, was den Bürgern in den EU-Mitgliedsstaaten wirklich einen Gewinn brachte und bringt: Die 4 Grundfreiheiten.
+ Freier Personenverkehr INNERHALB der EU
+ Freier Warenverkehr
+ Freier Dienstleistungsverkehr und
+ Freier Kapitalverkehr
übrigens alles Freiheiten die nur dann überhaupt einen Sinn für die Bürger machen wenn es dadurch zu unterschiedlichen Angeboten/Auswahlmöglichkeiten kommt. Welchen Sinn macht schon ein freier Warenverkehr wenn gleichzeitig geregelt wurde dass es überall nur noch den gleichen Mist gibt? Dito beim Dienstleistungsverkehr oder dem freien Kapitalverkehr. Ob ich das Girokonto mit der 01815-EU-Gestaltung bei der nächsten Sparkasse in Gelsenkirchen, oder bei der RBS-Niederlassung in Madrid eröffne ist ziemlich wurscht wenn eh das gleiche drin steckt. Eine Wahl ist das nicht. Auch das es überall nur den Euro gibt ist nicht gerade eine Wahl. Freier Kapitalverkehr macht unter anderen dann Sinn, wenn ich mich für eine unter mehreren Währungen entscheiden (und jederzeit wechseln) kann.
Die EU die wir kennen wäre das dann freilich nicht mehr. Viele Eurokraten und EU-Institutionen könnten ihre Koffer packen, bzw. dicht machen. Und einen neuen Namen sollte man dem Kind dann besser auch gleich geben. Sagen wir mal das dauert noch bis 2019.
Von 2007 (Unterschrift des Lissabon Vertrages) bis 2019 wären 12 Jahre. Tja, die für 1000 Jahre bestimmten Reiche in Europa haben eben ihre eigene Zeitrechnung.
ebo
1. Juli 2016 @ 20:32
@Skyjumper. Interessante Perspektive. Allerdings hat sich gezeigt, dass die vier Grundfreiheiten ohne Regulierung nicht durchzusetzen und zu halten sind. Das fängt bei der Normung der Gurke an, geht über das Einheits-Sparbuch bis hin zur Regulierung der Banken und der Absicherung der Außengrenzen. Dieses Programm hat die EU noch nicht einmal komplett abgearbeitet! Eine andere Politik heißt, nicht beim Binnenmarkt anzusetzen, sondern beim „guten Leben“ – also bei Zielen, die die EU für ihre Bürger erreichen will. Nachhaltiges Wachstum, sichere Jobs, intakte Umwelt, solche Dinge. Das würde wahrscheinlich einige Eingriffe in den Markt und seine Freiheiten nötig machen – aber die Hoffnung, dass der Markt es schon richten würde, ist seit 2008 ohnehin obsolet geworden..
S.B.
1. Juli 2016 @ 23:07
@ebo: Ja, die Hoffnung, dass der Markt es schon richten würde, wurde durch die EU/EZB-Planwirtschaft zunichtegemacht. Den regulierenden Markt gibt es spätestens seit diesem Zeitpunkt nicht mehr. Ein weiterer schwerer Nachteil der EU, den wir alle noch schwer auszubaden haben werden.
Skyjumper
2. Juli 2016 @ 13:26
@ ebo
Mein etwas längerer Text von gestern Abend scheint im Nirvana des Netzes verschwunden zu sein, und ich mag ihn nicht noch mal zusammenpriemeln. In Kürze gerafft gebe ich Ihnen Recht dass es selbstverständlich trotzdem Regeln geben muss. Aber im Zweifel erscheint mir weniger an dieser Stelle mehr zu sein, während die EU umgekehrt verfährt und im Zweifel lieber mehr regelt.
Hinsichtlich Markt vs. Staat halte ich es dagegen mehr mit @S.B. Wir haben derzeit keine Marktwirtschaft. Wir haben staatliche Eingriffe in alle Märkte mit der Folge das großkonzern- und quasimonopolistische Strukturen entstanden sind. Der Verbraucher als wichtigstes Regulativ in einer Marktwirtschaft ist in diesen Strukturen chancenlos geworden und kann seiner Rolle gar nicht gerecht werden. Großkonzernsozialistische Planwirtschaft von Staates Gnaden. Und beide sind mittlerweile in Komplizenschaft aufeinander angewiesen.
hyperlokal
1. Juli 2016 @ 18:26
Wir haben ja mittlerweile eine erschreckende Rechtsentwicklung des zunächst harmlos daher kommenden Handelsrechts, für das die EU-Kommission die Hoheit beansprucht. Zum Beispiel
– Die Kommission entscheidet selber, ob CETA durch die Parlamente zustimmungspflichtig ist oder nicht,
– Die berüchtigten Schiedsgerichte, die der Deutsche Richterbund zurecht entschieden ablehnt, was die EU-Kommission aber nicht interessiert,
– In den Handelsabkommen gibt es Klauseln, die es z.B. verbieten, dass einmal privatisierte öffentliche Dienstleistungen wieder rekommunalisiert werden dürfen.
Dies alles sind Perversionen des Rechts, die ganz klar gegen Artikel 20 Absatz 3 verstoßen. Danach ist die Exekutive (z.B. die EU-Kommission) an „Recht und Gesetz gebunden“. Sie vestößt aber mindestens massiv gegen das „Recht“ in Absatz 3, das gemeint ist im Sinne von „Gerechtigkeit“, denn sonst bräuchte es die Unterscheidung zwischen „Recht“ und „Gesetz“ nicht. Der Begriff „Gesetz“ repräsentiert dagegen die positivistische Rechtsentwicklung, die die EU-Kommission meint, für sich in Anspruch nehmen zu können. Hier irrt sie.
Aber sollte sich die Situation so entwickeln, dass sogar Verfassungsgerichte die geplanten Handelsabkommen bestätigen z.B. die genannten Punkte, dann hätte wir eine Situation nach $20 Abs. 4 GG, also das Recht zum Widerstand.
Es gilt dann frei nach Goethe: „Wenn Recht zu Unrecht wird, dann wird Widerstand zur Pflicht“.
In gewissem Sinne deuten die aktuellen Entwicklungen darauf hin, dass immer mehr Bürger dazu bereit sind. Leider, wie immer in solchen geschichtlichen Phasen, besteht die Gefahr, dass sie sich hinter den falschen Leuten zusammenrotten. Aber vielleicht finden sich ja bald echte vertrauenswürdige Führungsfiguren.
PS: Selbst der Varoufakis wäre mir mit seiner Project-Syndicate-Werbung viel zu Soros-lastig, jetzt, wo der Soros zudem gegen den Euro spekuliert, wie man hört.
Lina
1. Juli 2016 @ 17:21
Alles richtig.
Zu 6.
Wenn ein deutscher Politiker bei einem offiziellem Fotoshooting mit dem deutschen Vizekanzler und dem griechischen Premier, den griechischen Fotografen als „dreckigen Griechen“ beschimpft, wird der deutsche Führungsanspruch europaweite „Begeisterungsstürme“ ernten.
http://www.keeptalkinggreece.com/2016/07/01/german-ex-minister-ramsauer-tells-photographer-dont-touch-me-filthy-greek/?utm_source=feedburner&utm_medium=twitter&utm_campaign=Feed%3A+KeepTalkingGreece+%28Keep+Talking+Greece%29