Ungereimtheiten im Fall Nawalny
In Belarus brauchte die EU noch mehrere Tage, um eine gemeinsame Position zu bestimmen. Im Fall des russischen Kreml-Kritikers Nawalny dauerte es nur ein paar Stunden. In der Eile wurden ein paar diplomatische Gepflogenheiten vergessen.
Deutschland und die EU haben Russland aufgefordert, den mutmasslichen Giftanschlag aufzuklären und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Das klingt folgerichtig und vernünftig. Doch leider gibt es da ein paar Ungereimtheiten. So hat die Charité keineswegs einen Giftanschlag nachgewiesen. Sie spricht nur davon, dass “klinische Befunde” auf eine Vergiftung “hinweisen”. Welches Gift eingesetzt wurde, bleibt unklar.
Normalerweise stimmen sich die Ärzte und solchen Fällen mit ihren Kollegen von der Notaufnahme ab. Die Mediziner in Omsk genießen einen guten Ruf, sie hatten die Erst-Behandlung eingeleitet. Hätte die Charité ihren Befund nicht gegenchecken lassen können, bevor sie ihn bekanntgab?
Nachdenklich stimmt auch die ungewöhnlich schnelle Reaktion von Kanzlerin Merkel und Außenminister Maas. Erst erklärten sie, die Bundesregierung habe mit dem Fall Nawalny nichts zu tun. Er sei kein “Gast der Regierung”, die Einreise werde “nur aus humanitären Gründen” erlaubt.
In solchen humanitären Fällen pflegt die Regierung jedoch zu schweigen, auch zum (vorläufigen) Befund. In Berlin und anderen europäischen Hauptstädten wurden schon viele ausländische Patienten behandelt, auch russische oder ukrainische. Nie gab es so eine schnelle und laute Reaktion.
Unklar ist ferner, wieso die EU sofort beipflichtete und die deutschen Forderungen fast wortgleich übernahm. Hätte sie die Erkenntnisse aus Berlin nicht zuerst mit den Mitgliedsländern teilen und sich intern abstimmen müssen? Oder fürchtete man, ein EU-Land könne bei der Bewertung ausscheren?
Uns geht es nicht darum, den Befund der Charité infrage zu stellen – auch wenn er, wie gesagt, vorläufig ist. Die Ungereimtheiten betreffen in der erste Linie die deutsche Politik, die sich erst heraushalten wollte, und dann die Bundeswehr und das BKA mobilisiert und die EU eingeschaltet hat.
Über die Hintergründe kann man nur spekulieren. Die Bundesregierung greife im Fall Nawalny hart durch, weil ihr in Belarus die Hände gebunden sind, vermutet die Osteuropa-Sprecherin der Grünen, Marieluise Beck. Tatsächlich wäre dies eine plausible Erklärung, auch für den deutschen EU-Vorsitz.
Denkbar ist aber auch, dass Deutschland selbst unter Druck steht – wegen Nord Stream 2 und der Anfeindungen aus den USA, Polen etc. Wäre es möglich, dass Merkel und Maas deshalb so schnell und so hart reagieren, um die deutsch-russische Pipeline zu retten? Deren Gegner lauern nur auf einen Fauxpas…
Siehe auch “Warum Merkel in Belarus ein Risiko eingeht”
European
27. August 2020 @ 17:46
Dieses Interview mit Gabriele Krone-Schmalz ist 6 Jahre alt, aber immer noch hochaktuell. Insbesondere wenn es um die einseitige und beeinflussende Berichterstattung über Russland und Putin geht.
https://www.youtube.com/watch?v=MWNJM2dX4Zs
Es gibt nur wenige JournalistInnen, denen man bezüglich Russland-Berichterstattung vertrauen kann. Gabriele Krone-Schmalz gehört absolut dazu.
Peter Nemschak
27. August 2020 @ 14:50
@ebo Die USA haben eine starke Verfassung während Russland auf den Trümmern der bolschewistischen Revolution steht.
Peter Nemschak
27. August 2020 @ 14:28
“Vladimir Putin built a mafia state; Alexander Lukashenko a dictatorship. Neither regime can reform itself, but people are tired of these backward-looking autocrats.” Der Economist bringt es, wie so oft, auf den Punkt.
Holly01
27. August 2020 @ 15:26
Rauchen ist völlig unschädlich, gezeichnet Der Marlboro Mann ….
Sie haben auch immer Quellen ;-P. Gab es nichts von der CIA oder vom BfVs ?
…
vlg
Peter Nemschak
27. August 2020 @ 13:28
@ebo Das siegreiche stalinistische Regime hätte man nach 1945 zu einer Zeit als die USA das Atomwaffenmonopol hatten, beseitigen können. Diesbezügliche Überlegungen gab es in der Truman-Regierung. Sie wurden aber nicht umgesetzt. Der hohe Blutzoll der Sowjetunion gibt kein Anrecht auf ein totalitäres Regime.
ebo
27. August 2020 @ 13:51
Oha, man spürt, dass Sie noch mitten im Kalten Krieg leben und denken…
Fragen Sie mal einen Historiker, ob Putin mit Stalin zu vergleichen ist, und das heutige Russland mit der UdSSR 🙂
Peter Nemschak
27. August 2020 @ 14:22
Putin und Stalin sind keineswegs vergleichbar: ein autoritär-korruptes Regime auf der einen und ein totalitäres auf der anderen Seite. Faktum ist, dass Putin und seine Mitstreiter mit allen Mitteln an der Macht bleiben wollen und dafür in westlichen Demokratien inakzeptable Mittel verwenden. Regimechange mit demokratischen Mitteln gehört nicht zum Repertoire des derzeitigen Russland. Es geht wie immer um Macht und Einfluss. Jedenfalls unterliegt das Putinregime, nach allem, was passiert ist, dem Generalverdacht auch vor Verbrechen gegenüber Regimegegnern nicht zurückzuschrecken.
ebo
27. August 2020 @ 14:40
Auch ein gewisser Trump will mit allen Mitteln an der Macht bleiben…
Peter Nemschak
26. August 2020 @ 21:39
Russland hat ein autoritäres Regime. Sein Verhalten zu verteidigen, grenzt an Kopf in den Sand zu stecken. Dass man es nicht eliminieren kann, ist eine andere Sache.
Holly01
27. August 2020 @ 07:55
Ach das ist ja ein schönes Wort, “eliminieren”.
Das klingt viel angenehmer als vernichten, ausrotten, zerstören, von der Karte tilgen usw..
Leider klingt da auch Bedauern mit. Weil wir es nicht können, bedeutet nicht, das wir es nicht würden, wenn wir könnten, aber auf jeden Fall möchten wir es, es juckt so in den Fingern.
Keine Ahnung warum die uns nicht vertrauen …… wir sind doch die Guten.
vlg
Peter Nemschak
27. August 2020 @ 11:13
Die USA hätten 1945 das zweite totalitäre Regime in Europa eliminieren können. Das NS-Regime wurde eliminiert, oder ?
ebo
27. August 2020 @ 12:10
Nun ja, ich würde eher sagen: Das NS-Regime wurde besiegt. Von Russland, den USA und ihren Alliierten. Den größten Blutzoll hat Russland gezahlt.
European
27. August 2020 @ 12:32
Ich denke, dass die regime change Versuche des Westens alle restlos gescheitert sind. Egal, ob man nun Saddam, Gaddafi oder auch Assad als Beispiel nehmen möchte. Nichts hat sich verbessert. Alles wurde nur noch schlimmer. Nur weil die Alliierten glücklicherweise Nazideutschland platt gemacht haben, heißt das nicht, dass solche Methoden woanders erfolgreich sind.
Was wäre gewesen, wenn Deutschland die ausgestreckte Hand Putins nach seiner Rede im deutschen Bundestag angenommen hätte? Immerhin war Putin zu Glasnost-Zeiten ein enger Mitarbeiter des Petersburger Bürgermeisters Anatoli Sobtschak, frei gewählt und bis zu seinem Tod ein Mentor Putins. Nix Totalitarismus.
Gorbatschow, der die Einheit Deutschlands ermöglichte, konnte sich nicht halten. Jelzin hat die Oligarchen groß werden lassen und das Land im Chaos versinken lassen. Mag man Putin mögen oder nicht, aber das Land funktioniert wenigstens einigermaßen. 8 Zeitzonen, von high tech bis Mittelalter, von ewigem Eis bis Wüste. Außerdem war es der Westen, der sich nicht an die Versprechen nach der Wiedervereinigung gehalten hat. Auch das muss man sehen. Und es lohnt die Frage, wem ein neues, altes Feindbild nützt?
Heißt nicht, dass ich totalitäre Regimes stütze. Ich glaube nur, dass wir auch anerkennen müssen, dass Länder unterschiedliche Wege nehmen, unterschiedliche Geschwindigkeiten haben und dass sie vielleicht sogar eine andere Gesellschaftsform haben wollen, als wir.
Vielleicht klärt sich der Nawalny – Fall noch auf. Wir werden es sehen.
European
26. August 2020 @ 18:01
Das wird genauso eine merkwürdige Angelegenheit werden, wie der Skripal-Anschlag im letzten Jahr in Salisbury. Und wahrscheinlich wird er genau so im Sand verlaufen.
Zu Nawalny sollte man sich dieses Interview aus 2017 durchlesen. Nur weil jemand ein Putin-Kritiker ist, heißt es nicht, dass er auf der guten Seite steht.
https://www.mdr.de/nachrichten/osteuropa/politik/nawalny-kritisch-klimeniouk-100.html
RUSSLAND „Nawalny macht offene Fremdenfeindlichkeit hoffähig“
Ich verurteile dieses Attentat. Vielleicht stellt sich noch heraus, was tatsächlich dahinter steckt. Aber der Beißreflex, dass immer gleich Putin dahintersteckt, ist auch kein gangbarer Weg. Dieser Artikel zeigt, dass Nawalny durchaus auch andere Feinde jenseits der Regierung haben könnte.
Putin ist überaus intelligent. Ein ehemaliger KGB-Mann, jahrelang ausgebildet und aktiv. Wenn er jemanden würde umbringen wollen, glaube ich nicht, dass wir im Westen überhaupt etwas davon mitbekommen würden. Auch das Skripal-Attentat war mehr als stümperhaft gemacht. Ein Doppelagent, der während seiner 13-jährigen Gefangenschaft in einem russischen Gefängnis problemlos hätte beseitigt werden können. Und zwar ohne dass auch noch Fotos von den Tätern frei Haus mitgeliefert worden wären. Genutzt hat das Geschrei in dem Moment nur Theresa May. In ihrem politisch absoluten Tiefpunkt konnte sie sich als starke Premierministerin positionieren und von dem restlichen Desaster prima ablenken. Heißt nicht, dass sie etwas damit zu tun hat.
Ich hoffe sehr, dass Nawalny sich erholt und die Angelegenheit aufgeklärt werden kann. Aber die Art und Weise wie uns immer wieder das Feindbild Russland und Putin aufgeschwätzt werden soll, ist mehr als fragwürdig.
Außerdem frage ich mich, wieso wir nicht schon längst Julian Assange in die Charité geholt haben? Bei ihm kann man sich fragen, ob überhaupt noch etwas an ihm gesund ist. Berichten zufolge ist er wirklich sehr krank und von Folter gezeichnet. Da hört man nichts. Ebenso wie niemand in Europa Snowden ein Asyl zumindest angeboten hat. Funkstille.
Dass er bei uns nicht sicher wäre steht auf einem anderen Blatt.