Sommerserie: Kämpfen die Ukrainer für Europa und die EU?
In Europa herrscht wieder Krieg – und die EU kämpft mit. Wie konnte es dazu kommen, und wo soll das alles enden? Unsere Sommerserie versucht, die wichtigsten Fragen zu beantworten. Heute: Kämpfen die Ukrainer für Europa und die EU?
Diese Frage wurde von EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen aufgeworfen – und auch gleich beantwortet: „Die Ukrainer sind bereit, für die europäische Perspektive zu sterben. Wir wollen, dass sie mit uns den europäischen Traum leben“, erklärte sie.
Von der Leyens steile These soll den geplanten EU-Beitritt legitimieren. Allerdings gibt es keinen Beleg für die Behauptung, dass “die Ukrainer” bereit seien, “für die europäische Perspektive” zu sterben.
Die übergroße Mehrheit der Menschen kämpft für ihr eigenes Land, und sonst gar nichts. Von der Leyens Ansage dürften nicht wenige Ukrainer als anmaßend oder zynisch empfinden.
___STEADY_PAYWALL___
Richtig ist allerdings, dass sich viele in der Ukraine zu “europäischen Werten” bekennen. Dies haben sie schon beim Euro-Maidan 2014 bewiesen, wo auch die EU-Flagge wehte.
Ihr Kampf für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte ist legitim; er verdient Unterstützung. Dennoch sollten wir uns davor hüten, diesen Kampf und die Mission der EU in eins zu setzen.
Die EU ist vor allem ein Staatenbündnis, keine Bürgerunion. Für die Durchsetzung europäischer Werte in der Ukraine hat sie wenig getan; unter Kriegsrecht ist dies auch kaum möglich.
Bleibt die Frage, ob die Ukraine die EU oder “Europa” vor Angriffen aus Russland schützt. Das wird zwar in Kiew gern behauptet, doch Belege gibt es bisher keine.
Kremlchef Putin hat sich bisher davor gehütet, der EU zu drohen oder gar anzugreifen. Dies liegt nicht zuletzt an der massiven Präsenz der Nato – sie ist es, die Europa schützt, nicht die Ukraine.
Fazit: Die Behauptung, dass die Ukraine für die EU bzw. ihre Werte kämpfe, ist mit Vorsicht zu genießen. Sie mag gut gemeint sein, dient jedoch vor allem dazu, europäische Hilfe zu legitimieren.
Siehe auch “Legendenbildung um den EU-Beitritt.” Alle Beiträge zum Krieg in der Ukraine hier
Weiterführende Links:
Oksana Sabuschko: „Die Ukrainer kämpfen, um Europa vom Schreckgespenst des Totalitarismus zu befreien“ (Europaparlament)
Bundeszentrale für Politische Bildung: Die Ukraine kämpft für Europa (Kommentar von M. Nelles)
FOCUS: Wäre die Ukraine ein EU-Mitglied, müsste Brüssel jetzt Soldaten schicken
Burkhart Braunbehrens
31. Juli 2022 @ 13:28
Zweifelsfrei kämpft die Ukraine für Selbstbestimmung als Land, das zu Europa gehört und nicht Kolonie eines autokratisch regierten Russland, das imperialistischen Hegemoniewünschen folgt. Ob die EU ihrem Anspruch entspricht, Europa zu repräsentieren, erscheint angesichts der Tatsache, dass die EU die Unterstützung des Kampfes der Ukrainer um Selbstbestimmung nicht zur ersten Pflicht macht, fraglich. Und die EU verspielt die Chance, sich dabei zu finden, und sich zu definieren jenseits der europäischen imperialen und kolonialen Vergangenheit.
Armin Christ
30. Juli 2022 @ 08:29
Was sind denn eigentlich die EUropäischen Werte ?????
Thomas Damrau
29. Juli 2022 @ 12:01
Dulce et decorum est pro patria mori. Zu deutsch: Wenn Du im Krieg für’s Vaterland stirbst, bekommst Du wenigstens ein Denkmal. Das Christentum neigte eher dazu, Sündenerlass für Kreuzugsteilnahme zu versprechen.
Ich würde die Frage, wofür die Ukraine kämpft, um die Frage ergänzen, wofür die einzelnen BürgerInnen der Ukraine kämpfen.
Zunächst gibt es auch in der Ukraine Menschen, die es mit dem pro-patria-mori nicht so haben. Diese werden in den deutschen Medien natürlich seltener erwähnt als die russischen Deserteure.
Auf der anderen Seite gibt es in der Ukraine einen überschießenden Nationalismus. Ich habe diesen indirekt auf einem internationalen Musik-Festival in Stuttgart erlebt, als die ukrainische Band ihre Ansagen so sehr mit „Victory to Ukraine“, „Glory to Ukraine“, „We will win“ etc. durchsetzte, dass der Veranstalter in der Abmoderation weniger nationalistische Töne anmahnte.
In allererster Linie gibt es in der Ukraine den verständlichen Reflex sich zu wehren, wenn einem die Hütte angezündet wird.
Darüber hinaus kommen wir schnell ins Reich der Spekulationen und der Propaganda. Schon 2014 wurde in den deutschen Medien so getan, als ob „die ukrainische Bevölkerung“ gegen die Regierung auf die Strasse gegangen sei, um die Unterzeichnung des Assoziationsabkommen mit der EU durchzusetzen. Dabei war nur ein Bruchteil der Bevölkerung auf der Straße und die Stimmung im Land war Umfragen zufolge nur zur Hälfte pro-EU.
(Stellen wir uns mal kurz vor, Fridays-for-Future ginge mit der Forderung auf die Straße, die gewählte deutsche Regierung müsse wegen Untätigkeit in Klimafragen gestürzt werden. Wie würden die deutschen Medien darüber berichten?)
Aber diesen Aspekt können wir erst mal zur Seite schieben: Die Ukraine war schon vor dem Krieg ein armes Land. Natürlich ist der westliche Lebensstil gerade für den jungen Teil der ukrainischen Bevölkerung sehr viel attraktiver als der russische.
Unsere Medien machen daraus gerne ein „Die UkrainerInnen lechzen nach Demokratie“. Das ist insofern richtig, dass es in der Ukraine immer noch große Demokratie-Defizite gibt:
– Korruption
– Medien in der Hand von Oligarchen
– Wahlen, die daran nichts ändern
Die drei Punkte gerade oben gibt es auch in den Ländern der EU:
– mit Geldgeschenken kann auch in der EU Entscheidungen beeinflussen (z.B. Masken an den Staat verticken oder Entscheidungen über PKW-Antriebstechnologien beeinflussen)
– Springer, Berlusconi, Murdoch & Co. machen Meinung
– von Demokratiedefiziten und autokratischen Regimen in der EU möchte ich hier nicht groß reden
Zusammenfassend
– Die UkrainerInnen müssen zunächst einmal individuell überleben.
– Danach wären ihnen etwas weniger Armut sicher ganz recht.
– Ob die UkrainerInnen sich im Augenblick idealistische Illusionen über die Segnungen der Demokratie in der EU machen, kann ich nicht sicher beurteilen – habe aber so meine Zweifel.
Um zum Anfang zurück zukommen: In Kriegen müssen die KämpferInnen und die Bevölkerung zum pro-patria-mori motiviert werden. Dabei hilft der ukrainischen Regierung sicherlich die Aussicht „überleben und danach am Wohlstand der EU partizipieren“.
Das Narrativ über die Freiheit der EU, die am Dnepr verteidigt wird (nicht mehr im Hindukusch) richtet sich in erster Linie an die Bevölkerung der EU, die im nächsten Winter zum pro-patria-frigere motiviert werden muss.t
european
29. Juli 2022 @ 14:57
Die UkrainerInnen kaempfen in erster Linie um ihr Land und das ist verstaendlich. Sie kaempfen nicht fuer europaeische Werte. Sie sind in meinen Augen in erster Linie Opfer geostrategischer Politik zweier Grossmaechte, an der sich die EU beteiligt hat. Sie traegt damit auch Mitschuld an dieser Entwicklung.
Die EU und auch die europaeischen Laender versuchen nun die Situation zu verbessern, indem sie die Dinge umbenennen, schoenreden bzw. verniedlichen. Die Ukraine war bis einen Tag vor Kriegsbeginn ein durch und durch korruptes Land mit einem Buergerkrieg, der ca. 14.000 russisch-sprachige Ukrainer (so meine letzte Information) das Leben gekostet hat.
Trading Economics listete die Ukraine in 2021 auf Platz 122 im Korruptionsranking
https://tradingeconomics.com/country-list/corruption-rank
Nur zum Vergleich. Das vielgescholtene Italien liegt auf Platz 42 und das verpruegelte Griechenland auf Platz 58. Wir sind ja gerade wieder dabei, die Schuld fuer alles den Suedlaendern aufzulasten. Unsere Medien spitzen schon mal die Bleistifte und packen die Frames der Finanzkrise wieder aus. Der “Club Med” kursiert schon wieder und ich warte nur darauf, dass die “PIGS”, die Schweine, wieder durch den Blaetterwald rauschen. Dann muss ich mich wieder bei unserem italienischen Schwiegersohn fuer ein Land entschuldigen, das ich selbst nicht mehr verstehe und fuer das ich mich nur noch schaemen kann.
Die UkrainerInnen lechzen nach Demokratie ist auch so ein Bullshit-Satz. Die Ukraine wird gerade zum Griechenland 2.0. Runter mit den Loehnen, weg mit Arbeitnehmerrechten, her mit den Zero-Hour-Vertraegen, dann werden die “Investoren” Schlange stehen. Hat zwar in Griechenland schon nicht funktioniert und wird hier auch nicht, bei dieser unsicheren Gesetzeslage und der hohen Korruptionsrate.
Man luegt uns in die Tasche. Das ist das Problem.
Holly01
29. Juli 2022 @ 08:00
Die Ukrainer wurden in einen Krieg getrieben der inzwischen ein Existenzkampf ist.
Mit der EU hat das überhaupt nichts zu tun.
Mit Polen und Litauen schon, die sind auch EU Mitgliedsstaaten, aber diese nationalen Interessen sind klar GEGEN die EU gerichtet.
Der Keil zwischen Eurasien und der EU welcher vom schwarzen Meer bis zur Ostsee reicht ist ein polnisch-lettischer Traum.
Die Scherkräfte die diese Bestrebungen ausgelöst haben betreffen die EU direkt. Aber da kämpfen Ukrainer, Polen und Letten eben nicht für die EU sondern gegen die EU.
Thomas Damrau
29. Juli 2022 @ 13:39
Ich halte es normalerweise mit dem altem Okham ( https://de.wikipedia.org/wiki/Ockhams_Rasiermesser ): Es erst mal mit der einfachsten Erklärung versuchen.
Natürlich mag es Gruppen geben, die sich ein polnisch-littauisches Großreich ( https://de.wikipedia.org/wiki/Polen-Litauen ) zurückwünschen.
Ob die teilweise enge militärische Kooperation ( https://de.wikipedia.org/wiki/Litauisch-Polnisch-Ukrainische_Brigade ) als Beleg dafür dienen kann, dass auf Regierungsebene an einem solchen Großreich bebastelt wird?
Ich sehe die Erklärung eher in den Fliehkräften innerhalb der EU. Die PiS träumt davon, eine autoritär-theokratische Regierung auf Dauer einzurichten (Vorbild Putin) – was die EU-Kommission eher halbherzig bekämpft. Die NATO hat traditionell weniger Probleme mit Autokratie. Daher sucht die polnische Regierung schon jetzt Jahren die Annäherung an die USA. Durchaus erfolgreich.
So gesehen kommt der Ukraine-Krieg der polnischen Regierung gerade recht: Heute werden die Länder der Erde in Russland-Gegner und Russland-Unterstützer unterteilt – Demokratie oder Autokratie ist nur ein nachrangiges Kriterium. Prima für die PiS.
Mit Polen verbindet Littauen sicherlich eine gemeinsame Historie – aber vor allem die gemeinsame Abneigung gegen Russland und der inzwischen manifeste Konflikte zwischen den ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten innerhalb der EU mit dem “alten Europa”.