Auf einem Auge blind
In Madrid hat der Prozeß gegen zwölf führende Vertreter der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung begonnen. In Barcelona zweifelt man an der Rechtmäßigkeit des Verfahrens und der Unvoreingenommenheit der Justiz – doch Brüssel schaut weg und schweigt.
Die Staatsanwaltschaft wirft den Angeklagten Rebellion, Aufruhr und Veruntreuung öffentlicher Mittel vor. Schon das ist fragwürdig – in den meisten EU-Ländern gibt es ein Delikt namens Rebellion schlicht nicht.
Wenn überhaupt, dann ist ein gewaltsamer Versuch des Umsturzes oder der Sezession strafbar – doch die Unabhängigkeitsbewegung in Katalonien war friedlich, Gewalt ging fast nur von der Polizei aus.
Zudem geht es im Kern um ein politisches Problem, das sich auch politisch lösen ließe – z.B. durch mehr Autonomie, etwa bei den Steuern. Stattdessen kommt es zum politischen Prozeß.
In der europäischen Öffentlichkeit wird das Verfahren denn auch mit Argusaugen beobachtet. Der Vorwurf der Rebellion sei absurd, schreibt die NZZ, das ganze Verfahren sei politisch motiviert.
Der Prozeß habe eine enorme Sprengkraft und sei in Spaniens 40-jähriger Demokratie einmalig, meint auch die “Tagesschau”. Nicht zuletzt die geforderten jahrzehntelangen Haftstrafen wecken Zweifel.
Besonders vehement protestiert die Zeitung der schottischen Nationalisten, “The National”:
If this level of repression was happening anywhere else in the world, European politicians would be lining up to condemn the prime minister and demand the release of all political prisoners immediately.
Doch bei der EU-Kommission in Brüssel will man von all dem nichts wissen. Kommissionschef Juncker hat, genau wie Kanzlerin Merkel, dekretiert, dass die eine innere Angelegenheit Spaniens sei.
Dass es auch um den Rechtsstaat gehen könnte – wie in Polen oder Ungarn – kommt den EU-Granden nicht in den Sinn. noch bis vor kurzem machten sie mit der konservativen Regierung gemeinsame Sache.
Juncker und Merkel hielten eisern zu Ex-Premier Rajoy. Heute scheuen sie schweigend zu, wie sich dessen konservative Partei mit Rechten und Rechtsextremen gemein macht.
Das erweckt den Eindruck, dass die EU auf einem (westeuropäischen) Auge blind ist – genau wie bei den Übergriffen der Polizei in Frankreich oder dem Fall Assange in UK.
[bctt tweet=”Das erweckt den Eindruck, dass die EU auf einem (westeuropäischen) Auge blind ist – genau wie bei den Übergriffen der Polizei in Frankreich oder dem Fall Assange in UK.” username=”lostineu”]
Besser wäre es auf jeden Fall gewesen, wenn die EU die Zentralregierung in Madrid frühzeitig zur Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit ermahnt und auf eine politische Lösung gedrängt hätte.
Juncker hat dafür ja sogar einen eigenen Kommissar den niederländischen Rechtsstaats-Experten Timmermans, im Nebenberuf Spitzenkandidat der Sozialdemokraten für die Europawahl.
Doch genau wie sein Rivale M. Weber von der CSU/EVP ist Timmermans zufällig gerade in der Versenkung verschwunden…
Siehe auch “Sprecht über Assange!”
P.S. Nun hat sich auch Separatisten-Führer Puigdemont aus dem Exil zu Wort gemeldet. Er kritisiert, dass sich die EU lieber um die Lage in Venezuela kümmere als um sein Land…
Baer
13. Februar 2019 @ 10:25
Glaubt denn irgendjemand in diesem Blog,außer vielleicht Herr Nemschak an Demokratie in der EU oder sonst irgendwo?
Wir haben ,wohin man auch sieht, eine ausufernde Plutokratie und nichts anderes.
Wer das leugnet ist entweder blind und taub,oder mittlerweile gehirngewaschen von unseren ach so objektiv berichtenden MSM.
Augen auf,Verstand einschalten und schon beginnt ein positiver synaptischer Prozess zum Wohle der Demokratie.
Holly01
13. Februar 2019 @ 14:06
Das ist eine Scheindebatte. Die letzte öffentliche “Diskussion” über die Form unseres Zusammenlebens dürfte die Aufklärung gewesen sein. Diese “Diskussion” war von Anfang an vergiftet, weil man immer eine Frage in den öffentlichen Raum gestellt hat “dürfen viele dumme über wenige kluge herrschen”?
Was wir haben war nie das was die breite Masse als Demokratie bezeichnen würde, es war immer eine Republik. Eine Elitenherrschaft gesteuert mit monetären Mitteln.
Wir trösten uns mit dem “Hinweis” das ein Aufstieg von ganz unten nach ganz oben möglich wäre und blenden die monetäre Steuerung dabei weg.
Die theoretische Demokratie hat das selbe Problem, wie der theoretische Markt.
Basis ist ein Gesellschaft mit gleicher Bildung und gleichem Informationsstand, woraus gleiche Entscheidungsmöglichkeiten abgeleitet werden.
Erfolg und Misserfolg würden so statistische Größen, die man beeinflussen kann.
Die Realität ist aber eine völlig andere.
Es gab nie eine realistische Antwort auf das Problem der Bildung von Eliten.
Es gab nie eine realistische Antwort auf das Problem der monetären Klumpenbildung.
Es gab nie eine realistische Antwort auf das Problem der Seilschaften.
Es gab nie eine realistische Antwort auf das Problem das wir Menschen sind, mit unterschiedlichen Interessen und Fähigkeiten.
Es ist ein status quo bei dem die bestehende Elite bereit ist Alles zu tun, um den Status zu erhalten und ihre Stellung zu vererben. Damit leben wir.
Also die Forderung nach “Demokratie” ist schön und plakativ. Die Eliten hören das auch nicht ungern, ist ein schickes Ventil. Es gibt nur schliesslich kein schlüssiges Konzept, welches die Eliten gefährden könnte.
Wir können ja nicht einmal den individuellen Schutz vor der überschäumenden monetären Steuerung zu etablieren, indem wir sagen “ein Kredit darf nie die Lebensgrundlage und die Teilnahme am öffentlichen Leben einschränken”.
Das wäre zumindest ein Minimalkonsens. Menschenrecht größer Kreditpfändung
Leider nicht durchsetzbar.
Von einer ´”Demokratie” im idealistischen Sinne ist nicht einmal ein Rahmen absteckbar.
vlg
Kleopatra
13. Februar 2019 @ 09:29
Spanien zahlt mit dem Euro. Deshalb gibt es hier nur noch ein Problem, nämlich ob sie währungs- und wirtschaftspolitisch nach Deutschlands Pfeife tanzen. Über den Rechtsstaat wird nur dann gesprochen, wenn der heilige Euro nicht Thema ist.
Außerdem hat die Frage, wie sich die EU zu Bestrebungen eines Landesteils zu Selbständigkeit stellen soll, das Potential, sie endgültig zu spalten, weil es genügend EU-Mitgliedstaaten mit einer harten Einheitsstaatsideologie gibt und kein Mitgliedstaat seine “territoriale Integrität” von der EU in Frage stellen lassen will.
ebo
13. Februar 2019 @ 11:19
Alles richtig. Das Rechtsstaats-Thema hat die EU aber selbst gesetzt – in Polen und Ungarn. Dann kann sie nicht in Spanien ein Auge zudrücken. Wird sonst zum Bumerang, z.B. im Europawahlkampf
Peter Nemschak
12. Februar 2019 @ 17:27
Die langen Haftstrafen waren bei Einführung der demokratischen Verfassung zur Bestrafung einer etwaigen Rebellion des Militärs gedacht. Sie sollten überdacht werden. Nichtsdestoweniger ist Sezessionismus in Europa ein Anachronismus und unerwünscht. Katalonien ist ein innerspanisches Problem und nicht eines der EU. Brüssel müsste, um tätig zu werden, von beiden Parteien als Vermittler eingeladen werden. Spanien ist schließlich ein souveräner Mitgliedsstaat und kein Bruderstaat im Verständnis der ehemaligen Sowjetunion.
ebo
12. Februar 2019 @ 18:13
So lange es um die Proteste in Katalonien ging, mögen sie Recht haben. Aber nun geht es um den Rechtsstaat – und da ist die EU gefordert.
Peter Nemschak
12. Februar 2019 @ 21:06
Handelt die spanische Regierung etwa nicht verfassungskonform ?
ebo
13. Februar 2019 @ 09:11
Die spanische Regierung hat gewechselt. Die Sozialisten gehen gelassener mit der Katalonien-Frage um als die PP, die mit Merkel und Juncker jeden Versuch abgeblockt hat, eine politische Lösung zu suchen. Aktuell geht es aber um die spanische Justiz. Die Strafgesetze zur Rebellion sind durchaus fragwürdig und – am europäischen Maßstab gemessen – anachronistisch. Genau deshalb sollte die EU-Kommission das Verfahren genau beobachten und ggf. einschreiten.
Holly01
12. Februar 2019 @ 18:31
In einer funktionierenden EU gibt es keinen Sezessionismus.
Es gibt nur ein gestaffeltes “Recht auf Selbstbestimmung”.
Der Schutz der verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen (auch und vor Allem gegenüber monetären Einflüssen) muss sich aber erst etablieren.
Wir haben den Grundsatz der Subsidiarität, es fehlt die Definition und der Schutz der Teile.
vlg
Holly01
12. Februar 2019 @ 16:42
Eins wird passieren:
– Verurteilung, bedeutet die Nationen werden den Vorrang gekommen.
– Freispruch, bedeutet die Völker bekommen den Vorrang.
Es gibt viele Fälle, wo Völker mehr Eigenständigkeit VERLANGEN.
Also unterdrücken wir die Völker zugunsten eines historisch zufälligen Zustands, den wir Nachkriegsordnung nennen ODER wenden wir uns einer Friedensordnung zu?
Das entscheidet sich nicht in diesem Prozess. Aber es ist schon eine Wegmarke.
vlg