Die brandgefährlichen Kriegsziele von Melnyk & Co.
Während die EU ihre Waffenlieferungen für die Ukraine immer mehr ausweitet, werden die Kriegsziele kaum diskutiert. Das ist gefährlich, denn manch ein “Alliierter” schießt weit übers Ziel hinaus.
So hat Vize-Außenminister Melnyk nicht nur Kampfjets oder U-Boote gefordert. Er will Russland nach dem Krieg auch aus dem Schwarzen Meer verbannen – wenn es denn überhaupt als Staat überlebt.
Damit übernimmt Melnyk die Rhetorik der Maximalisten, die eine Zerschlagung der russischen Föderation und die totale Entwaffnung fordern. Ein Krieg um die Krim wäre da wohl nur der Anfang…
Übertragen auf die USA hieße das, daß Pearl Harbor vernichtet und die Pazifikflotte versenkt würde. Außerdem würde man die USA zerschlagen und Honolulu wieder seinen Ureinwohnern übergeben.
Irre? Es geht noch verrückter. So haben die Europaabgeordneten der ECR-Fraktion allen Ernstes diskutiert, wie sie den “russischen Kolonialismus” überwinden und das “Staatengefängnis” auflösen können.
Taking into account the national and ethnic map of the territories of the Russian Federation, we should discuss the prospects for the creation of free and independent states in the post-Russian space, as well as the prospects for their stability and prosperity. The international community has a duty to support the rights of the indigenous peoples who, as a result of Russian conquest and colonisation, now exist within the borders of the Russian Federation.
ECR
Die meisten ECR-Abgeordneten kommen übrigens aus Polen, das gerade sein Wehrbudget verdoppeln und die größte Armee EUropas aufstellen will. Man fragt sich, ob das eine mit dem anderen zusammenhängt?
Wem das zu spekulativ scheint, der möge sich mit dem ukrainischen Präsidentenberater Podolyak auseinandersetzen. Der ist davon überzeugt, dass der Krieg eskalieren und auf Moskau oder St. Petersburg übergreifen wird.
Er behauptet zwar, von einer “internen militärischen Eskalation in Russland” zu sprechen, ohne Hilfe von außen. Doch im Gespräch mit “Newsweek” wird klar, dass er dies für ein legitimes Kriegsziel hält.
The war will move completely and totally to the Russian territory, and will be conducted not so much by means of Ukrainian military as by internal means related to protest.
Regardless of Ukraine, internal military escalation in Russia is imminent, and there will be strikes on different targets. What targets will be struck, by whom, and what for — that’s another question. But we cannot discuss it now, given the shortage of public information. Ukraine is not conducting strikes on Russian territory. Nevertheless, military escalation inside Russia is inevitable. As part of it, cities like Moscow, St. Petersburg, Yekaterinburg, and others — those lazy, coddled cities convinced that they inhabit a different reality — will be affected too. But this escalation will be Russia’s internal problem.
Zitiert nach “Meduza”
Bleibt eigentlich nur noch die Frage, welche Folgen es für die EU hätte, wenn Russland kollabiert und ein Bürgerkrieg ausbricht? Es wäre womöglich noch schlimmer als der Krieg in der Ukraine…
Siehe auch Panzerdebatte : Ein Faktencheck. Mehr zum Krieg in der Ukraine hier
P.S.
Laut Fyodor Venislavsky, einem Mitglied des Nationalen Sicherheitsausschusses des ukrainischen Parlaments, werden die Kiewer Streitkräfte nicht zurückhalten, wenn es darum geht, Orte innerhalb Russlands zu treffen. Im Gespräch mit der “Bild” beschrieb er Moskau auch als ein „legitimes militärisches Ziel“. Jeder, der glaubt, dass Kiew sich verpflichten sollte, die von seinen westlichen Unterstützern gelieferten Waffen nicht bei Angriffen auf russisches Territorium einzusetzen, lebe in einem „Parallelwelt”. – Wen er damit wohl meint?
Annette Hauschld
4. Februar 2023 @ 14:17
Ich spiele mal den advocatus diaboli:
Russland aus dem Schwarzen Meer zu vertreiben ist – rein vom militärischen und sicherheitspolitischen Standpunkt her – ein naheliegendes Ziel für das ukrainische Militär und die Regierung in Kiew. Bis 2014 hatte Russland den Heimathafen der einstmals stolzen Schwarzmeerflotte, Sewastopol, von der Ukraine gepachtet. Die Ukraine brauchte Geld und gab und gibt immer noch dafür Land her an ausländische Investoren und Institutionen. Wenn die Krim wieder an die Ukraine zurückfallen sollte, wird die Ukraine dort vermutlich eine ukrainische Marine aufbauen, mit der Kriegsbeute aus den verbliebenen schwimmenden Einheiten der Schwarzmeerflotte und/ oder in Kooperation mit NATO-Ländern wie der Türkei, Schweden, GB, USA, die diesen Hafen als Stützpunkt haben soll. Oder die Marinebasis Sewastopol wird an eine „freundliche Macht“ verpachtet. Damit würde dann die Ukraine den russischen Zugang zum Schwarzen Meer aus dem Asovschen Meer heraus kontrollieren/blockieren. Genau das ist die Angst des Kreml.
Vergesst bitte nicht: Die Angriffe auf die Ukraine erfolgten zu Wasser, zu Lande und aus der Luft, auch und grade von der Krim aus und von der Schwarzmeerflotte. Russland hatte vielleicht nicht nur einen ukrainischen Großangriff auf den Donbass für das Frühjahr 2022 befürchtet, sondern auch befürchtet, dieser strategisch wichtige Hafen würde sehr bald in die Hände der NATO fallen. Von der Krim aus stieß die russische Infanterie und Artillerie in die Südukraine und Richtung Odessa vor. Allein schon aus Sicherheitserwägungen heraus hat die Ukraine das Bestreben, die Krim wieder unter ihre Kontrolle zu bringen, damit ihr Rücken frei bleibt. Das hat zunächst mal nichts mit Nationalismus zu tun.
Außerdem hat die Weltbank vor Jahren erklärt, dass die Kreditwürdigkeit der Ukraine nur gegeben sei, wenn das Territorium vollständig sei. ( Ich finde die Fundstelle grade nicht).
Die Hinweise auf das Territorium der Ukrainischen Volksrepublik finde ich sehr interessant, danke sehr, @Thomas Damrau.
Ob die Rückeroberung der Krim aber der Ukraine wirklich Sicherheit vor russischen Angriffen bietet, ist fraglich, denn Russland würde sicherlich auf dem anderen Ufer des Asovschen Meeres militärische Anlagen bauen oder verstärken, und wäre damit immer noch eine Gefahr für die Ukraine/Krim.
@thomas damrau: vielen Dank für die Erklärung des Begriffs „Völkergefängnis“ und die Darlegung der historischen Grenzziehungen und -verschiebungen.
@ebo:
ein Bürgerkrieg in Russland möglicherweise schlimmer als der Krieg in der Ukraine! Fragt sich für wen? Es wird nicht nur von den polnischen MdEPs gefordert sondern von deren Waffenbrüdern und Mentoren, bestimmten Kräften in der US-Administration und GB. Hab ich nicht vor kurzem hier in diesem Blog etwas gelesen über eine internationale Konferenz in Prag zur Dekolonisierung Russlands? Ausgerechnet die US-Amerikaner vorwerfen den Russen vor, das letzte Land mit Kolonien zu sein! Das ist für mich ein Zeichen dafür, dass man nicht mehr nur überlegt, sondern aktiv nach Ansätzen sucht, die Russische Föderation zu sprengen. Das Motto: Freiheit für die Yakuten, Burjaten, Tungusen, Baschkiren, Tschuktschen, Tschetschenen, etc.. obwohl in Sibirien jetzt seit Jahrzehnten mehrheitlich ethnische Russen leben. Das ist kein Gedankenspiel mehr, das wird grade in die Tat umgesetzt. Damit will man viele kleinere Fronten für das russische Militär aufmachen, Russland überdehnen, die Ukraine entlasten und was Polen dann macht steht in den Sternen. Schaut Euch nur mal die Reisen europäischer und amerikanischer Politiker in die Region an. Wetten, dass Deutschland dann wieder als erster diese neuen Republiken anerkennen wird, wie damals Hans Dietrich Genscher und Kohl bei der Zerschlagung Jugoslawiens? Jugoslawien?
Ob solche Ideen bei den Sibiriern auf fruchtbaren Boden fallen könnten? Ein großer Teil des Bruttoinlandsprodukts der Russischen Föderation wird auf den sibirischen Gas- und Ölfeldern erwirtschaftet, aber die Armut soll dort auch groß sein.
Brandgefährlich dürfte es auch bei den südlichen Teilrepubliken werden.
Und wenn dann ein Bürgerkrieg ausbricht, zumindest im europäischen Teil Russlands, dann könnte ja Polens mittlerweile zur größten NATO-Armee Europas aufgebaute Militärmacht zu Hilfe eilen und Schiedsrichter spielen, …
so könnte das alles zusammenhängen
KK
4. Februar 2023 @ 01:24
@ Art Vanderley:
„Bisher ist die Politik ablehnend bei Jets, aber es ist schon bemerkenswert, mit welcher Dreistigkeit die Ukraine, nur einen Tag nach dem “Go” für Kampfpanzer, die nächsthöhere Forderung stellt.“
Ich meine mich zu erinnern, am Tag der Leo2-Entscheidung die Forderung nach Kampfjets und Raketen aus der Ukraine abends in derselben Nachrichten-Meldung vernommen zu haben… demnach hat die Ukraine gar nicht erst bis zum nächsten Tag gewartet.
Art Vanderley
4. Februar 2023 @ 20:42
Ist ja noch schöner….und längerfristig nicht geschickt. Auch hier macht der Ton die Musik, jedenfalls z.T., man kann schon die ersten genervten Reaktionen vernehmen, wenn auch hintergründig.
Art Vanderley
3. Februar 2023 @ 21:11
In der Phönix Runde gab es mal eine andere Art der Einheitsphalanx, der der Warner vor der Lieferung von Kampfjets, mit genau dem Argument, daß v.a. die F16 geeignet sei, auf russisches Territorium auszugreifen und daß sie auch nur in diesem Zusammenhang Sinn macht. Hinzu komme noch die Wartung, die nur auf NATO-Gebiet möglich sei, was zu einem Abflug etwa aus Polen führen würde und daher heikel sei.
Wollen wir hoffen, daß sich da eine leise Trendwende in den Medien ankündigt…
Bisher ist die Politik ablehnend bei Jets, aber es ist schon bemerkenswert, mit welcher Dreistigkeit die Ukraine, nur einen Tag nach dem “Go” für Kampfpanzer, die nächsthöhere Forderung stellt. Kleiner Finger, ganze Hand…
Gegenüber Rußland hat der Westen einen ähnlichen Fehler gemacht wie gegenüber dem Deutschen Reich nach dem ersten WK, wenn auch nicht so extrem. Der Westen hat ein offenbar ein Problem mit dem verantwortungsvollen Umgang mit Siegen in heißen und kalten Kriegen.
Annette Hauschld
4. Februar 2023 @ 13:49
Nein, natürlich nicht. Der Forderungskatalog existiert schon lange, ich vermute, dass er sogar schon vor dem russischen Angriff in der Schublade lag, und es wird immer ein Punkt mehr abgearbeitet, scheibchenweise. Damit bei den zögerlichen Westlern nicht die große Panik aufkommt. Ist doch eine kluge Strategie.
Art Vanderley
4. Februar 2023 @ 20:39
„Ist doch eine kluge Strategie.“
Nur kurzfristig . Irgendwann wird der Westen ein Stoppzeichen setzen müssen und dann könnten sie dumm dastehen mit ihrer Selbstüberschätzung. Außerdem ist niemand, sagen wir, so nonchalant dabei, Partner über Nacht fallen zu lassen wie die US-Amerikaner, wenn es ihren Interessen dient (was manchmal auch sein Gutes hat). Der Grundirrtum der Ukrainer, jedenfalls teilweise, zu glauben der Westen verfolge ukrainische Interessen.
KK
2. Februar 2023 @ 18:31
@ Thomas Damrau:
“… und wer Sprüche über “to support the rights of the indigenous peoples” klopft, sollte sich darüber klar sein, dass unter dieser Parole Kurden, Basken, Katalanen, Schotten, sämtliche Ethnien des indischen Sub-Kontinents, die Tamilien in Sri Lanka, sowie die afrikanischen Ethnien in den von den Kolonialmächten wirklich gezogenen Grenzen, die indigenen Völker Nord- und Lateinamerikas auch nach Unterstützung fragen könnten.”
Nicht zu vergessen die Bayern im sogenannten “Freistaat”; die ja auch ständig was zu meckern haben und Extrawürste wollen, wie zB eine eigene Partei ohne Konkurrenz aus dem selben Lager oder keinen Länderfinanzausgleich, bei dem sie Zahler sind (als sie noch Empfänger waren, haben sie freilich nicht drüber gemeckert).
Die CSU hat schon Identitätspolitik betrieben, als noch niemand wusste, was das war!
ebo
3. Februar 2023 @ 22:27
Ob Leos oder F16 – alle paar Wochen wird uns eine neue “Wunderwaffe” präsentiert. Das Publikum wird so gut unterhalten oder böse erschreckt (ja nachdem), aber vor allem abgelenkt: von der entscheidenden Frage, welches Ziel wir in diesem Krieg verfolgen, und mit welcher Strategie es erreicht werden soll. Haben Deutschland und die EU überhaupt ein Ziel, gibt es eine europäische Strategie? That’s the question – alles andere leitet sich daraus ab.
Thomas Damrau
2. Februar 2023 @ 15:00
… und wer Sprüche über “to support the rights of the indigenous peoples” klopft, sollte sich darüber klar sein, dass unter dieser Parole Kurden, Basken, Katalanen, Schotten, sämtliche Ethnien des indischen Sub-Kontinents, die Tamilien in Sri Lanka, sowie die afrikanischen Ethnien in den von den Kolonialmächten wirklich gezogenen Grenzen, die indigenen Völker Nord- und Lateinamerikas auch nach Unterstützung fragen könnten.
Der Ruf nach dem Selbsbestimmungsrecht der Völker war schon in WK 1 reine Propaganda: Nachdem das “Völkergefängnis” Österreich-Ungarn aufgelöst war, haben die Sieger munter die Trümmer des Osmanischen Reichs und die deutschen Kolonien unter sich aufgeteilt.
Thomas Damrau
2. Februar 2023 @ 14:43
Ich kann den ukrainischen Nationalismus schwer einschätzen.
Aufgabe: Vervollständigen Sie den Satz “Wir fordern eine Ukraine in den Grenzen von x”
Darauf gibt es verschiedene Antworten:
1) Der Westen nimmt selbstverständlich x=1991 an – den Status beim Zerfall der UdSSR.
2) Russland hat 2014 x=1954 für sich beschlossen – bevor die Krim an die Ukraine angegliedert wurde. Inzwischen will Russland wohl ein x=1764 ( https://de.wikipedia.org/wiki/Neurussland ), als Russland dem Osmanischen Reich die östliche Ukraine abgenommen hatte.
3) Die Position der ukrainischen Regierung ist offiziell x=1991, aber …
… es bleibt die Frage, ob die ukrainischen Nationalisten das auch so sehen. Die ukrainische Nationalismus ist (wie in vielen anderen Ländern) ein Produkt des 19. Jahrhunderts. Nur gab es im 19. Jahrhundert gar keinen sinnvollen Bezugspunkt x. In den davorliegenden Jahrhunderten war das Gebiet der heutigen Ukraine vom Osmanischen Reich, Polen, Österreich-Ungarn und Russland besetzt. Russland hat dann die Osmanen und Polen (polnische Teilung) aus dem Spiel genommen.
Die erste Gelegenheit über “ukrainische Grenzen” nachzudenken ergab sich am Ende von WK 1 als das zerfallende Zarenreich ein Machtvakuum hinterließ – mit ambitionierten Zielen der Ukraine ( https://de.wikipedia.org/wiki/Ukrainische_Volksrepublik ): Danach hätte Russland weder Zugang zum Schwarzen Meer und noch zum Asowschen Meer gehabt. (Wie es möglicherweise Melnyk vorschwebt.)
Daraus wurde nichts: Der Friedensvertrag von Versailles ließ Polen wieder auferstehen und der Polnisch-Sowjetische-Krieg sicherte Polen Teile der Westukraine. Die Rote Armee brachte den Rest der Ukraine unter ihre Kontrolle.
Erst der Sieg der UdSSR im WK 2 etablierte die heutige Westgrenze der Ukraine auf Kosten Polens.
Wenn ich jetzt die Töne von Melnyk & Co. höre, frage ich mich wirklich, ob für sie x=1991 ist – oder ob ihnen nicht doch eine Groß-Ukraine mit (x=1917)+was-sonst-noch-so-geht vorschwebt.