Afghanistan: Die EU hat ihren Kurs nicht korrigiert

Welche Lehren hat die EU aus dem Debakel in Afghanistan gezogen? Sie will militärisch stärker und eigenständiger werden, um selbst einen Flughafen wie Kabul evakuieren zu können. Doch die Politik der Interventionen im Schlepptau der USA stellen die EUropäer nicht infrage.

Repost vom 16. September 2021

Mehr Rüstung, ein Sondergipfel zur Verteidigung und engere Zusammenarbeit mit der Nato: Bei ihrer zweiten Rede zur „Lage der Union“ hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ihre alte Liebe wiederentdeckt – das Militär. Sie setzte sich aber auch für die Rechte der Frauen, der LGBT und der Journalisten ein und versprach, der Industrie den Nachschub an Microchips zu sichern.

Nach dem Debakel in Afghanistan müsse die EU „mehr tun“, erklärte die frühere deutsche Verteidigungsministerin in ihrer rund einstündigen Rede. Gemeinsam mit Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron will die CDU-Politikerin die europäische „Verteidigungsunion“ vorantreiben.

Neben einer schnellen Eingreiftruppe und einem eigenen militärischen Lagezentrum brauche die EU vor allem eins: „politischen Willen“, erklärte sie. Ähnlich hatte sich zuvor ihre Amtsnachfolgerin, Annegret Kramp-Karrenbauer, geäußert.

Europa brauche mehr Willen zur (Selbst-)Verteidigung, Deutschland müsse weiter aufrüsten, hieß es nach dem Afghanistan-Debakel in Berlin. Allerdings blieb auch in der Rede von der Leyens unklar, wozu die Verteidigungs-Anstrengungen eigentlich gut sein sollen.

Die USA und die Nato haben Afghanistan kampflos den Taliban überlassen, Aufrüstung ändert daran nichts mehr. Sie könnte zwar dazu beitragen, die EU unabhängiger von den USA zu machen – doch dagegen spricht die geplante noch engere Anbindung an die Nato.

Die falschen Lehren

Die deutsche EU-Chefin ist im Begriff, die falschen Lehren aus dem Afghanistan-Debakel zu ziehen. Richtig wäre es gewesen, die USA zur Verantwortung zu ziehen und von US-Präsident Biden eine gerechte Lasteneinteilung zu fordern.

Schließlich hatten die Amerikaner nicht einmal den Rückzug aus Kabul mit den EUropäern abgestimmt. Nun versuchen sie, die Kosten ihrer imperialen Politik auf die düpierten Alliierten abzuwälzen. Ein Nein aus EUropa wäre überfällig.

Doch das traute sich die glühende Transatlantikerin nicht. Offen blieb auch, ob die EU mehr afghanische Flüchtlinge aufnehmen will – oder ob sie die Grenzen dicht machen soll, wie dies etwa Österreich fordert.

Von der Leyen klammerte diese Streitfrage aus und erklärte, Brüssel werde weitere 100 Millionen Euro an humanitärer Hilfe bereitstellen. “Wir stehen zum afghanischen Volk“, sagte sie. Vor allem Frauen müssten geschützt werden.

Update 14. August 2022: Auch ein Jahr später zeigt sich die EU “besonders besorgt” um Frauen und Mädchen in Afghanistan. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell erklärte, jede humanitäre Hilfe für Afghanistan hänge davon ab, dass die Taliban die Grundsätze der Menschenrechte respektierten, “insbesondere die Rechte von Frauen und Mädchen, Kindern und Minderheiten”. Ihre eigene Rolle hat die EU jedoch ebenso wenig infrage gestellt wie die der USA. Im Gegenteil: Brüssel folgt Washington heute mehr denn je, das Debakel in Afghanistan hat daran nichts geändert…

Siehe auch “Aufrüsten wg. Afghanistan” und “Die Anti-China-Agenda”. Mehr zu Afghanistan hier

P.S. Die EU hat nicht einmal reagiert, als die USA das afghanische Zentralbank-Vermögen konfisziert haben. Auf diesen Präzedenzfall will man sich offenbar berufen, um auch die russische Zentralbank zu enteignen. Doch immerhin protestieren nun prominente US-Ökonomen, mehr dazu hier