Wir sind das Volk

Europa streikt gegen die Sparpolitik. Nein, nicht ganz Europa. Aber außer den üblichen Verdächtigen, die bis 2022 unter dem Regime der Troika schmachten sollen (mindestens), machen auch ein paar andere mobil. Zum Beispiel die Portugiesen, die sich den DDR-Slogan “wir sind das Volk” zu eigen gemacht haben, als sie BRD-Kanzlerin Merkel empfangen haben. Was sich sonst noch so tut, möchte ich in einer Linksammlung dokumentieren. Beiträge herzlich willkommen!

Fangen wir gleich mit einem Tweet an, der mich beim Frühstück überrascht hat, und den ich retweetet habe:

Natürlich bekommt die EU-Kommission keine direkten Weisungen aus Berlin – aber das zeigt, wie aufgeladen die Stimmung in Spanien ist.

Den besten Nachrichtenüberlick liefert wie immer die BBC. Interessant finde ich vor allem die Grafiken zur Arbeitslosigkeit. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass Frankreich keineswegs so schlecht dasteht, wie es derzeit in Deutschland dargestellt wird – die Zahlen sind einfach nur schlechter EU-Durchschnitt. Mehr zur Wirtschaftslage in Frankreich (und in Deutschland) hier.

Eine interessante Analyse zu den politischen Streiks in der Krise hat die Rosa-Luxemburg-Stftung vorgelegt. Man erfährt unter anderem, dass sei Beginn der Krise bereits über 30mal zu politischen Streiks aufgerufen wurde, am meisten – wie zu erwarten – in Griechenland.  Danach folgen Italien, Frankreich, Belgien und Spanien. Die Studie steht hier.

In Madrid wuden 19 Krankenhäuser besetzt – die Ärzte fürchten eine Privatisierung des Gesundheitswesens. Dazu ein Twitter-Bild. Weitere Streikbilder gibt es hier. Derweil wird aus Portugal eine hohe Beteiligung am Generalstreik gemeldet.

Der “Guardian” hat Gewerkschafter aus mehreren Ländern gefragt, warum sie zum Streik aufrufen. Hier ihre Antwort. Ein Deutscher ist übrigens nicht dabei, dafür ein Brite. Aber wenn die Rezession wie zu erwarten auch Germany erfasst, dürfte sich dies schnell ändern. Warten wir mal ab… In der Zwischenzeit empfehle ich meinen Blogpost “Wozu die Krise gut ist”.

In Belgien wird sogar ein Kernkraftwerk bestreikt, meldet “Le Soir”. Ansonsten stehen die Räder vor allem in der Wallonie still. Und natürlich bei der Bahn – und im Ford-Werk Genk. Das soll ja bekanntlich geschlossen werden, die Produktion wird vermutlich nach Köln verlagert. Ob belgische Ford-Arbeiter auch heute wieder in Köln protestieren? Live-Reporter, bitte melden! Genug Zeit hätten sie, denn Genk nimmt die Kurzarbeit erst wieder am Donnerstag auf, wie die “Rote Fahne news” meldet (ja doch, das gibt es auch noch…)

Jetzt gibt es Proteste vor der irischen EU-Vertretung in Brüssel. Warum bei den Iren? Nein, nicht weil sie Geld vom ESM bekommen und Muttis Ratschlägen brav folgen. Irland übernimmt am 1.1.13 den EU-Ratsvorsitz von Zypern. Und die Gewerkschafter hoffen, dass die Iren das EU-Boot umsteuern. Nun ja. Bisher sind sie nicht mal in der Lage, sich den Vorgaben aus Berlin und Brüssel für ihr eigenes Land zu widersetzen. Außerdem hoffen sie, 2013 wieder an den Kapitalmarkt zurückzukehren. Ein Anti-Austerity-Kurs ist daher aus Dublin kaum zu erwarten…

Next: EC live press briefing – ich hör mal rein, ob sie irgendwas zum Streik sagen. Offiziell ist die EU-Kommission ja immer für “Jobs and growth”. Wer mal reinhören möchte, hier ist der Link. Allerdings tut sich nicht viel. Nach 45 Minuten immer noch kein Wort über die Proteste, die mittlerweile draußen vor der Tür der EU-Kommission stattfinden. Eine bessere Infoquelle ist wieder einmal Twitter:

So, nun wieder ein bisschen Background. Die Friedrich-Ebert-Stiftung kam eben mit einer spannenden Studie über Eurokrise, Austeritätspolitik und das Europäische Sozialmodell. Hier die zentrale Botschaft:

Durch die genannten Eingriffe in Südeuropa wird der Prozess der Liberalisierung des Europäischen Sozialmodells, der bis zur Krise vor allem in West- und Osteuropa zu beobachten war, in der gesamten EU durchgesetzt. Sollte der ökonomische Pfad der Austerität trotz aller Widerstände bis 2014/2015 durchgehalten werden und dann in eine neue Aufschwungsphase münden, wäre das politische Desaster für die europäische Sozialdemokratie und die Gewerkschaften perfekt.

Wer die Nachrichten hört oder liest, könnte meinen, es gehe nur um Verkehrsbehinderungen. Die Forderungen der Streikenden, wie sie etwa der Europäische Gewerkschaftsdachverband ETUC formuliert, und die in der Idee eines “Social compact” analog zum “Fiscal compact” münden, kommen kaum vor. Bestenfalls erfährt der Medienkonsument, dass es “gegen die Sparpolitik” geht.  Wie üblich wird der Kontext ausgeblendet – von der “Konditionalität” der Finanzhilfen für Krisenländer über Merkozys Fiskalpakt bis hin zur Forderung nach noch schärferen Budgetkontrollen, wie sie Merkel und Schäuble erheben.

Selbst der “Tagesspiegel” macht da keine Ausnahme. Immerhin bringt er eine Reaktion von Merkel, die zeigt, wie abgehoben sie mittlerweile von der Realität ist. Die Streiks zeigen ihrer Meinung nach, dass man in Europa nicht mehr über Demokratie diskutieren müsse, sondern diese leben könne. Zu dumm, dass in Merkels “Demokratie” Volkes Stimme so gut wie nichts zählt…

Damit schließe ich erstmal diese Linksammlung. Zum Schluß noch ein Link zu einer Livecam aus Madrid, wo die Proteste von Gewalt überschattet werden. Man ahnt schon, was in den Abendnachrichten gezeigt wird… Dabei ist der Euro mittlerweile selbst zu einem Gewaltverhältnis geworden, wie ich schon vor einiger Zeit geschrieben habe. Wer es nochmal nachlesen will, der Text steht hier.