Von großen Koalitionen und kleinen Vasallen
Die Europawahl sollte einen großen Sprung nach vorn für die Demokratie bringen – und entpuppte sich als großer Schwindel. Wie konnte es dazu kommen? – Teil 5 der Sommer-Serie: Von großen Koalitionen und kleinen Vasallen.
Nach der Europawahl geschah etwas Ungewöhnliches: Obwohl sich das neue EU-Parlament noch gar nicht konstituiert hatte, begannen Spitzenkandidaten und Fraktionschefs – also die “alten” Abgeordneten – mit Gesprächen über einen Koalitionsvertrag. Die “neuen” MEP waren außen vor.
An den Gesprächen waren nicht nur Konservative und Sozialdemokraten beteiligt, wie 2015. Diesmal waren auch Liberale und Grüne dabei. Denn nur mit drei oder vier Parteien ließ sich (vielleicht) eine Mehrheit bilden. Die Linke wurde ebensowenig eingeladen wie der rechtskonservative EKR.
Und es gab noch eine Besonderheit: Bei den Sozialdemokraten und den Liberalen hatten sich die innerparteilichen Gewichte verschoben. Bei den Sozis gaben nun die Spanier den Ton an, bei den Liberalen die Franzosen. Pedro Sanchez aus Madrid und Emmanuel Macron aus Paris zogen die Fäden.
Den Konservativen und den Grünen gefiel dies gar nicht. So werde wertvolle Zeit bei den Koalitionsverhandlungen gefährdet, hieß es etwa bei den Grünen. Die neuen Fraktionschefs seien nicht viel mehr als “Vasallen” von Sanchez und Macron – so werde das Parlament ferngesteuert.
Tatsächlich haben S&D und “Renew Europe” die Koalitionsgespräche zwischen EVP und Grünen erschwert. Wer gehofft hatte, das Parlament könne sich schnell auf den EVP-Kandidaten Weber einigen, sah sich getäuscht. Frans Timmermans und Margrethe Vestager gaben nicht klein bei.
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Doch das ist in einer parlamentarischen Demokratie völlig normal. Nicht normal hingegen ist, dass sich die beteiligten Parteien von vornherein auf eine große Koalition festgelegt haben. Im Wahlkampf hatten weder Weber noch Timmermans oder die Grünen diese Möglichkeit angesprochen.
Merkwürdig ist auch, dass es die alteingesessenen Abgeordneten so eilig hatten. Warum haben sie nicht die Konstituierung des neuen Parlaments abgewartet? Wieso bekamen die Neuankömmlinge in Straßburg keine echte Chance, neue Mehrheiten für eine andere Politik zu suchen?
Vor der Wahl hatten Sozialdemokraten, Liberale und Grüne genau dies versprochen. Timmermans prägte sogar den Begriff der “progressiven Mehrheit”. Die wäre freilich nur unter Einschluss der Linken möglich gewesen, wenn überhaupt.
Wenig transparent und überhaupt nicht kreativ
Doch statt kreativ nach neuen Bündnissen zu suchen, haben die Altvorderen in wenig transparenten Arbeitskreisen einen Koalitionsvertrag beraten, der letztlich nie Wirkung entfaltete. Damit haben sie selbst zu ihrem Scheitern beigetragen…
FAZIT: Die Wähler wurden nicht nur vom Rat übergangen – sondern auch vom Europaparlament. Entgegen allen Wahlversprechen ging es den “Proeuropäern” von Anfang an um eine “Große Koalition”. Die neu gewählten Abgeordneten bekamen keine Chance, neue Mehrheiten für eine andere Politik zu suchen.
Teil 4 der Serie steht hier. Siehe auch “GroKo im Eilverfahren?” und “Hinterzimmer? Das wahre Problem sind die Parteien. Teil 6 der Serie steht hier
Kwasir
7. August 2019 @ 12:31
Das trifft des Pudels Kern. Die alt-Konservativen wollten sich nicht vorstellen, dass ihre so gut geschmierte GroKo nicht ever-lasting sein würde, obwohl es die Umfrage-Spatzen von den Dächern pfiffen. Die Bockigkeit der Protagonisten, die nicht merken, dass sie ihre Zukunft hinter sich haben, hat doch den ganzen Konstitutions-Schlamassel nach der Wahl verursacht.
Keine der EP Parteienkonglomerate (sie Fraktionen zu nennen widerstrebt mir) war in der Lage mit EU-weiten Wahlprommen vor die Wähler zu treten, wie sollten da tragfähige, mit heisser Nadel gestrickte GroKo Vereinbarungen herauskommen.
Es wird bleiben wie es war: ad hoc Entscheidungen der Ausschüsse über ein einengendes GroKo-Korsett hinweg. Muss ja nicht schlecht sein, jedenfalls besser als ein GroKo Vertrag wie in DE, wo Parteigrößen (die nicht mal dem Parlament angehören) im Voraus festlegen, wie die “nur ihrem Gewissen verpflichteten” Volksvertreter in der Legislaturperiode abzustimmen haben. Die zwei Drittel NEUE werden sich mit der Zeit durchzusetzen wissen, und die Alten echt alt aussehen lassen. Dabei könnten die Grünen mit ihren Inhalten mehr erreichen, als ihrem EP Gewicht entspricht. Hoffen darf man ja.
Peter Nemschak
7. August 2019 @ 17:45
Die Inhalte der Grünen sind nicht ohne Verlust an Bequemlichkeit und materiellen Kosten für die Bürger. Man wird sehen, ob die Bürger das hinnehmen werden. Solange man nicht in der Regierung ist, lässt sich leicht reden. Moral, die nichts kostet, ist bei vielen beliebt.
Kwasir
8. August 2019 @ 11:28
Das eben ist die Herausforderung an die (auch EU-) Altvorderen: zu erkennen, dass die globalen Klimaverschiebungen, nicht ein (bislang wie zugegeben wird vielleicht vernachlässigtes) Thema unter anderen ist, und auch nicht ein von den Grünen eingehegtes Themenfeld. Die Kosten werden immens sein, und die Frage wird nicht mehr sein, ob der Bürger das hinnehmen will oder nicht. Er wird keine Wahl haben. Mehr als 7 % der EU Bürger leben in Überschwemmungsgefährdeten Gebieten, ca. 10 % in Regionen, in denen in mehr als 120 Tagen kein Tropfen Regen fällt. Selbst reiche Regionen mit dichter Bevölkerung und Infrastruktur werden an ihre finanziellen Grenzen kommen, wenn sie alle paar Jahre die Klimafolgenkosten zu tragen haben, wozu auch eine zunehmende EU Binnenmigration gehört, an deren Kosten sich die Mitgliedsstaaten werden beteiligen müssen .. Ohne Verwerfungen und Brüche der alten (auch Partei-) Strukturen wird das nicht abgehen, das bisherige Prinzip des „wasch mir den Pelz, aber mach mich bloss nicht nass !“ zur Erhaltung unserer auf Konsum und Bequemlichkeit abzielender Lebensformen ist nicht mehr zu halten. Das wird bei den meisten nicht ‚beliebt‘ sein und mit Moral schon gar nichts zu tun haben.
Kwasir
8. August 2019 @ 17:21
Das eben ist die Herausforderung an die (auch EU-) Altvorderen: zu erkennen, dass die globalen Klimaverschiebungen, nicht ein (bislang wie zugegeben wird vielleicht vernachlässigtes) Thema unter anderen ist, und auch nicht ein von den Grünen eingehegtes Themenfeld. Die Kosten werden immens sein, und die Frage wird nicht mehr sein, ob der Bürger das hinnehmen will oder nicht. Er wird keine Wahl haben. Mehr als 7 % der EU Bürger leben in Überschwemmungsgefährdeten Gebieten, ca. 10 % in Regionen, in denen in mehr als 120 Tagen kein Tropfen Regen fällt. Selbst reiche Regionen mit dichter Bevölkerung und Infrastruktur werden an ihre finanziellen Grenzen kommen, wenn sie alle paar Jahre die Klimafolgekosten zu tragen haben, wozu auch eine zunehmende EU Binnenmigration gehört, an deren Kosten sich die Mitgliedsstaaten werden beteiligen müssen .. Ohne Verwerfungen und Brüche der alten (auch Partei-) Strukturen und nachfolgenden politischen Neuformierungen wird das nicht abgehen, das bisherige Prinzip des “wasch mir den Pelz, aber mach mich bloss nicht nass !” zur Erhaltung unserer auf Konsum und Bequemlichkeit abzielender Lebensformen ist nicht mehr zu halten. Was bisher zu billig war (Naturressourcen) wird jetzt einen hohen Preis fordern. Das wird bei den meisten nicht ‘beliebt’ sein, mit Moral aber gar nichts zu tun haben. Die einen sind noch die “Sachverwalter”, dafür steht Mitte -rechts (EVP, die Frauen Merkel, vdLeyen u.v.a.m), die anderen die “Zukunftsgestalter”(was Timmermans ‘progressive Mehrheit’ nennt). Den nicht zu kleinen Rest bilden die patriotisch-populistisch Retrograden (Angstwähler z.B. AFD ) und die utopischen Links-Puristen ( für die die natürlichen Ressourcen nicht so recht in ihr Koordinatensystem passen, siehe die Wälder in Sibirien als jüngstes Beispiel : “brennen lassen”).
Holly01
7. August 2019 @ 11:21
Ich finde gerade beim guardian den Artikel nicht mehr. Wie es scheint hat man nicht nur den Abgang der Uk MEPs nach dem Brexit geregelt. Man hat auch die Wichtung der Staaten neu fest gelegt.
Alles schön leise.
Keine Vertragsänderungen.
Im besten Einvernehmen.
Die Zahl der Abgeordneten sinkt auch insgesamt, sind ja weniger Bürger.
Ich wünschte Deutschland wäre etwas mehr wie die EU.
Wir haben für Schland mehr Abgeordnete als die EU für fast 6 mal so viele Bürger.
vlg
Holly01
7. August 2019 @ 08:50
Weil das der einzige gemeinsame Nenner ist: Nur keine Veränderungen !!!!
Wenn die Reichen und Mächtigen zwischen Methusalem und Scheintot schwanken und jeden Morgen neu gestopft und aufgezogen werden müssen, dann kommt so ein “konservativer” Schweiss dabei raus.
vlg
Peter Nemschak
7. August 2019 @ 08:02
Die Altvorderen haben stets die Neigung an der Macht zu kleben, egal ob in demokratischen oder autokratischen Systemen. Macht ist eben geil.
ebo
7. August 2019 @ 09:06
Es hat nur wenig mit einer NEUwahl zu tun. Rund zwei Drittel der Europaabgeordneten sind neu. Sie wurden von den Alteingesessenen bevormundet, und mussten dann die Folgen des Scheiterns austragen.