Update: So steuert die EU gegen die Wand
Deutschland und die EU steuern auf eine schwere Energie- und Wirtschaftskrise zu. Die Probleme haben allerdings nicht erst mit dem Krieg in der Ukraine begonnen – und sie wurden durch die Sanktionen gegen Russland deutlich verschärft. Ein Nachtrag.
Die Kritik an den Sanktionen und ihren negativen Wirkungen auf die europäische Wirtschaft ist mittlerweile auch in Brüssel angekommen. So räumte der EU-Außenbeauftragte Borrell ein, dass es eine große Debatte darüber gebe, ob die Sanktionen wirksam seien und die EU mehr träfen als Russland.
“Einige europäische Staats- und Regierungschefs haben gesagt, die Sanktionen seien ein Fehler“, sagte der Spanier beim letzten Treffen der Außenminister. Doch dem lägen falsche Informationen zugrunde. So sei der Ölpreis, anders als behauptet, nach dem Ölembargo nicht gestiegen.
Zum Beweis hielt Borrell ein Chart in die Höhe, das zeigen soll, dass der Ölpreis wieder genauso hoch liege wie vor dem Krieg in der Ukraine. Tatsächlich ist der Preis für die Standardsorte Brent zuletzt gefallen. Der höchste Stand wurde rund um den EU-Beschluß zum Ölembargo erzielt.
Das ist aber nicht verwunderlich. Die Ankündigung eines Embargos hat die Preise getrieben – schließlich handeln die Märkte mit Wetten auf die Zukunft. Wenn der Beschluß kommt, entspannt sich die Lage schon mal. Borrell sollte das wissen – oder sich schlau machen, bevor er mit Charts hantiert.
Im übrigen ist der Verfall des Ölpreises auf akute Rezessions-Sorgen zurückzuführen. Diese gehen wiederum auf die aktuelle Gaskrise in Deutschland und der EU zurück, die nach dem Ölembargo begonnen hat. Auch kanadische Sanktionen spielen hier eine nicht unwichtige Rolle.
Es lässt sich also sehr wohl ein Zusammenhang zwischen Marktpreisen und Sanktionen nachweisen – auch wenn es keine Einbahnstraße ist. Deutlicher ist allerdings die Wechselwirkung zwischen den Sanktionen und der Energieversorgung. Moskau reagiert auf Strafen aus Brüssel, indem es den Hahn zudreht.
Das blendet die EU jedoch völlig aus. Sie tut so, als sei sie kein eigenständiger Akteur, sondern ein unschuldiges Opfer. Dies zeigt auch eine Veröffentlichung von Ökonomen der EU-Kommission: Russia’s war worsens the outlook: The Commission’s Summer Interim Forecast
Dort wird die Krise einzig und allein Russland und dem Krieg zugeordnet, die EU-Sanktionen und ihre Folgen werden nicht einmal erwähnt. Wer so einseitig argumentiert, muß sich nicht wundern, wenn die Zweifel an der ökonomischen Kompetenz der Kommission wachsen…
Dies ist ein Update zu unserer großen Analyse der europäischen Energie- und Wirtschaftskrise, der Beitrag steht hier
Alexander
21. Juli 2022 @ 17:39
Guy Verhofstadt: “So we have to ask the question if Hungary under the leadership of Orbán can continue to be member of our Union ?”
https://twitter.com/guyverhofstadt/status/1550097352383496193
Kleopatra
22. Juli 2022 @ 08:40
Da ein Ausschluss eines Mitglieds nicht vorgesehen ist, kann Ungarn auch ohne Verhofstadts Einverständnis solange Mitglied der EU bleiben, wie es ihnen selbst passt. Der Ausschluss eines unbotmäßigen Mitglieds ist ein feuchter Traum gealterter Europaabgeordneter seit vielen Jahren, und die Wahrscheinlichkeit, dass es dazu kommt, ist bedeutend geringer als für den Zerfall der EU selbst.
Thomas Damrau
20. Juli 2022 @ 20:30
Wie so oft beginnt die gezielte Selbstvernichtung mit Selbstüberschätzung: Das Selbstbild der EU von der starken, progressiven und innovativen Weltregion hat Brüssel in ein fiktives Parallel-Universum abgleiten lassen.
Um das zu erkennen, hat es nicht erst des Ukraine-Kriegs bedurft: Weder zu den wachsenden sozialen Verwerfungen in der EU, zum Abgleiten vieler Mitgliedsstaaten ins Autoritäre, zu den klammen Kassen, zum Überwachungskapitalismus der Internetkonzerne, noch zu den Herausforderungen der Klimakatastrophe hatte Brüssel schlüssige Konzepte gefunden.
Viel Symbolik und Beschwichtigung sollte den Bürgern suggerieren, dass die Situation unter Kontrolle ist. In Wirklichkeit wurden selbst die sinnvollen Ansätze Partikularinteressen geopfert: Die Deutschen schützen ihre Autoindustrie, die Iren ihre Steuersparmodelle für Internetkonzerne, usw. Und die EZB hielt das System mit billigem Geld am Leben.
Beim Thema Ukraine war die EU zwischen zwei Wahnsystemen eingequetscht:
– dem russischen Wahn, den Phantomschmerz über die amputierten Teile des ehemaligen Zarenreiches endlich kurieren zu müssen („heilige russische Erde“)
– dem US-Wahn, immer neue Fähnchen in die Landkarte stecken zu müssen („yet another country under US-influence“)
Und nicht nur geographisch eingequetscht, sondern auch abhängig: von russischen Rohstoffen und unter US-Vormundschaft. Als die Lage im Februar eskalierte, ließ die EU ließ die Muskeln spielen, die sie in Wirklichkeit nicht hat. Die eigene prekäre Lage wurde erfolgreich verdrängt:
– weder in der Lage, eine eigenständige Außenpolitik gegenüber Russland zu definieren (2014 haben die USA der EU gezeigt, dass die USA für die EU-Außenpolitik nur ein „Fuck-EU“ übrig haben)
– noch in der Lage, sich von Russland zu entkoppeln, ohne das eigene Wirtschaftssystem in den Sand zu setzen
Stattdessen wurden den EU-Bürgern eingeredet, man werde in einem Wirtschaft-Blitzkrieg Russland in die Knie zwingen – ansonsten sei Business-As-Usual angesagt. Und das haben zumindest die Deutschen auch so verstanden: Nach der Corona-Tristess wieder das Leben genießen – und ab in den Flieger.
Und so langsam klopft die Realität an die Tür – mal sehen, ob kalt duschen hilft.
european
20. Juli 2022 @ 21:42
Es gibt keine Unabhängigkeit auf dieser Welt. Selbst ein Bauer ist abhängig vom Wetter.
Selbst wenn wir jetzt massiv in den nächsten Jahren in klimaschützende Technologie investieren, sind wir davon abhängig, dass die anderen Länder mitmachen. Das vernichten wir mit der europäischen Politik gerade auf Generationen. Nie wieder Russland? Ein Blick auf die Landkarte zeigt, was man sich da vorgenommen hat. Die BRICS – Staaten wachsen. Es entstehen Bündnisse, mit denen man wohl so nicht gerechnet hat. Wer diktiert eigentlich wem demnächst die Agenda in die Feder? Die Frage muss man sich angesichts der schon fast tektonischen Verschiebungen wirklich stellen.
Wir schließen jetzt Verträge mit sämtlichen Kriegsverbrechern der Welt über Energielieferungen ab 2027 und sind dann unabhängig?
Es war ein kurzer Moment in der Geschichte der EU, als man auf Macron und seine Vorschläge zur Vertiefung und Koordinierung hätte eingehen müssen, um in Europa etwas aufzubauen, eine gemeinsame Strategie zu entwickeln, sich zu koordinieren und einen europäischen Standpunkt zu entwickeln. Aber da war Deutschland noch auf dem Siegertreppchen über alle EU-Länder. Jetzt ist Macron geschwächt und ein Scholz, der nicht mal über die eigene Gasversorgung in Deutschland bestimmen darf, will nun die EU „führen“. Auf die Zustimmungsquoten bin ich gespannt, wenn in der EU die Lichter ausgehen. Es wird ja ernst. Und im nächsten Jahr wählen die Italiener, vielleicht sogar schon früher. Und die sehen vieles völlig anders – sehr zu Recht übrigens. Aber die stärksten Parteien werden den Nordländern nicht gefallen.
The shit has hit the fan.
Thomas Damrau
21. Juli 2022 @ 07:19
@European
Kein Widerspruch von meiner Seite. Es ist nur bedenklich, dass die EU sich ihrer Abhängigkeiten und Defizite nicht bewusst zu sein scheint. Und sich stattdessen aufs Hochhausdach stellt und verkündet „I am able to fly – fuck Gravity“
european
21. Juli 2022 @ 13:51
Ich bin nicht sicher, ob sie es wirklich nicht wissen oder einfach nur lang genug zu ignorieren versuchen. Denn eine sichtbare Erkenntnis wuerde zwangslaeufige Reaktionen erfordern. Einfach gesagt: Man muss durch die gleiche Tuer wieder rein, durch die man mal rausgegangen ist. 😉
Ein Gang nach Canossa fuer eine Selbstvermarkterin wie UvdL. Kein Photo, kein strahlendes Laecheln, keine Erfolgsmeldung, sondern nur aufgebrachte Buerger.
Gerade lese ich, dass Draghi zurueckgetreten ist und es wahrscheinlich Neuwahlen gibt, bei denen Rechtsaussen deutliche Gewinne verzeichnen wird.
Ein Sturm zieht auf.
umbhaki
20. Juli 2022 @ 20:03
ebo schreibt:
„Wer so einseitig argumentiert, muß sich nicht wundern, wenn die Zweifel an der ökonomischen Kompetenz der Kommission wachsen…“
umbhaki meint:
Wer so einseitig argumentiert, also sein eigenes Handeln als Ursache der Misere einfach leugnet, beweist nicht nur fehlende Kompetenz in ökonomischen, sondern ganz allgemein in Regierungsangelegenheiten.
Inzwischen bewerte ich die Aktivitäten der EU-Gremien und der nationalen Regierungen als bösartig. Zwar gibt es diesen alten Spruch aus dem englischen: „Schreibe niemals der Bosheit zu, was sich durch Dummheit erklären lässt“, aber Dummheit reicht mir nicht mehr als Erklärung. Hier ist Bösartigkeit im Spiel.
Seit Monaten pfeifen die Spatzen von den Dächern, dass die Sanktionen gegen Russland große Schäden in Europa anrichten werden. Die Regierungen wissen das so gut wie wir Bürger. Sie setzen dennoch immer noch einen drauf (ein Sanktionspaket und noch’n Paket und noch’n Paket …) ohne jede Rücksichtnahme auf irgend etwas. Nein, das ist nicht Dummheit!
Gleichzeitig wird der Bürger belogen, dass sich die Balken biegen. In allen erdenklichen Medien wird, wie es im Artikel steht, so getan, als sei die EU das unschuldige Opfer. Nirgendwo wird das so deutlich wie bei der Gasfrage, bei der man es allein der Willkür Putins zuschreibt, ob demnächst wieder Gas fließen wird oder nicht.
Kein Wort dazu über die SWIFT-Ausschlüsse, über die Weigerung einzelner Akteure, ihre Rechnungen zu bezahlen (in Rubel halt), über die Ankündigungen von Politikern, „nie wieder“ Handel mit Russland treiben zu wollen, über die festgehaltene Kompressorturbine oder über die mantraartige Wiederholung der Aussage, man dürfe „Putin“ kein unschuldiges europäisches Geld zur Finanzierung des Krieges geben.
Nee, ob Gas fließt oder nicht, liegt angeblich alleine in der Willkür Putins. Frechheit, dass der uns unser Gas nicht geben will, obwohl wir Zicken bei der Bezahlung machen und ohnehin schon ca. 300 Mrd USD „eingefroren“ (vulgo: gestohlen) haben.
Sie wollen es so. Inzwischen neige ich immer mehr zu der Befürchtung, dass sie wirklich diesen verfluchten Ukraine-Krieg noch erheblich ausweiten wollen und uns darauf medial vorbereiten. Dazu muss Russland immer weiter dämonisiert werden.