Puigdemont beklagt “Doppelstandards”
Die Aussprache im Europaparlament über Russland und den mißglückten Besuch von EU-Chefdiplomat Borrell hat eine unerwartete Wendung genommen. Der katalanische Politiker Puigdemont ergriff das Wort und beklagte die “Doppelstandards” der EU.
Die Lage in Moskau sei ernst, doch in seinem Land – Katalonien bzw. Spanien – sei es noch viel ernster, so Puigdemont. Dort gebe es nicht nur einen, sondern gleich neun “politische Gefangene”.
Und die würden auch nicht nur zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, wie Kreml-Kritiker Nawlany. Nein, sie müssten neun bis 13 Jahre einsitzen.
“Die EU wendet Doppelstandards an“, kritisierte der Separatistenführer, der von Spanien per Haftbefehl gesucht wird. Borrell solle zurücktreten. “Borrell-Exit” hieß das in der deutschen Übersetzung, die ich gehört habe.
Puigdemonts Attacke ist pikant. Denn zum einen weigert sich die EU bis heute, Spanien wegen seiner Repression in Katalonien zu verurteilen. Auch das Europaparlament schaut weg; selbst auf seine parlamentarische Immunität kann sich Puigdemont nicht verlassen.
Zum anderen ist Borrell, der in Moskau für Grundrechte eintritt, einer jener spanischen Politiker, die in Madrid die Niederschlagung der Unabhängigkeitsbewegung in Katalonien unterstützen.
Bisher hatte man in Brüssel immer gedacht, dass dies beim Thema Kosovo zum Problem werden könne. Spanien weigert sich ja weiter standhaft, das Land anzuerkennen, das einst zu Serbien gehörte.
Dass es über Russland zum Eklat kommen würde, hat wohl niemand erwartet. Und dass ausgerechnet Puigdemont dem EU-Außenminister die Leviten lesen würde, noch weniger…
Siehe auch “Lawrow schlägt Borrell 2:0”
P.S. Andere Redner beklagten, dass es auch in der EU zu Polizeigewalt und Festnahmen komme – und nannten die Proteste in Belgien und Holland gegne den Lockdwon als Beispiel. Zuletzt waren in Brüssel 500 Menschen festgesetzt worden…
Kleopatra
10. Februar 2021 @ 20:52
Der Umgang mit Schottland ist besonders zynisch. Solange Großbritannien als EU-Mitglied “fest gebucht” war, haben EU-Repräsentanten den Schotten angedroht, nach einer Entscheidung für die Unabhängigkeit würden sie außerhalb der EU sein (mit Heulen und Zähneklappern), und sie sollten ja bei Großbritannien bleiben. Kaum ist Großbritannien ausgetreten, flirtet man geradezu mit der Möglichkeit, Schottland könnte sich von GB abspalten und der EU beitreten. Die kaum verhohlenen Andeutungen, man wollte für die EU einige Stücke aus dem britischen Staatsverband herausbrechen und der EU eingliedern (ähnliche Phantasien habe ich in Bezug auf Nordirland in Erinnerung), sind nicht der Umgang, der sich gegenüber einem anderen Staat gehört. In anderen Jahrhunderten war so etwas ein Casus belli.
Kleopatra
10. Februar 2021 @ 10:50
In Großbritannien geht die Zentralregierung mit der schottischen Unabhängigkeitsbewegung jedenfalls vernünftiger um. Letztlich kommt es darauf an, ob die Anhänger eines großen Spanien die Katalanen davon überzeugen können, dass auch sie sich der spanischen Nation zugehörig fühlen können oder nicht. Die neuerdings unternommenen Aktionen der spanischen Justiz dürften eher kontraproduktiv sein. Leider kann man beim EP eine hohe Bereitschaft befürchten, zwei der eigenen Mitglieder der (in dieser Hinsicht jedenfalls) politisierten spanischen Justiz in den Rachen zu werfen.
ebo
10. Februar 2021 @ 11:04
Richtig. Doch nicht nur das EP handelt widersprüchlich. Auch die Kommission ist nicht eindeutig. Die katalanischen Politiker ignoriert sie, Puigdemont bekam nicht einmal einen Termin. Aber die Schotten werden hofiert, Juncker hat sogar Sturgeon empfangen!