Schulterschluß statt Autonomie
Der neue US-Präsident ist noch nicht einmal im Amt, da dient sich Kanzlerin Merkel ihm schon an. Deutschland sei bereit, mehr Verantwortung zu übernehmen, sagt sie – und übt den Schulterschluß. Europas “strategische Autonomie” ist vergessen.
Was verbindet Merkel und Biden? Beide haben sie den Irak-Krieg befürwortet, der das Land in Trümmern legte, den IS hervorbrachte und Europa viele Flüchtlinge und mehrere Terrorwellen bescherte. Danach haben sie das Desaster verdrängt.
Außerdem haben sie unter Ex-Präsident Obama “vertrauensvoll” zusammen gearbeitet. Damals passierten einige unschöne Dinge in Syrien, der Ukraine und Afghanistan, aber an Biden ist offenbar nichts hängen geblieben.
Dies ist der Hintergrund für die neue, “vertrauensvolle” Zusammenarbeit, die Merkel nun Biden anbietet.
“Wir Deutsche und wir Europäer wissen, dass wir in dieser Partnerschaft im 21. Jahrhundert mehr eigene Verantwortung übernehmen müssen”, erklärte die Kanzlerin. Dazu gehörten stärkere Anstrengungen, um die eigenen Überzeugungen in der Welt besser zu vertreten.
Was damit wohl gemeint ist? Bisher war immer von mehr Rüstungsanstrengungen die Rede, AKK hat schon neue Zusagen gemacht. Nun könnte es auch um den Kampf gegen Desinformation gehen. Deren Hauptverbreiter, Noch-Präsident Trump, ist ja bald weg…
Aber im Ernst: Es ist schon sehr ungewöhnlich, dass sich die Kanzlerin eines souveränen Staat einem Präsidenten eines anderen Staats andient, noch bevor der sein Amt angetreten und die erste Grundsatzrede gehalten hat.
Ich habe mir Bidens Siegesrede am Samstag angeschaut, EUropa und Deutschland kamen mit keinem Wort vor. Warum also die Eile, dem incoming president verbindliche Zusagen zu machen? Und warum betont Merkel die europäische Verantwortung in dieser Partnerschaft?
Mir wäre es lieber, wenn die EU ihre Verantwortung immer wahrnehmen würde – vor allem gegenüber ihren eigenen Bürgern, und zur Not auch unabhängig von den USA. Das war eine der großen Lehren aus der Trump-Ära, Ratspräsident Michel sprach von “strategischer Autonomie”.
Hat Merkel sie schon wieder vergessen?
Siehe auch “Die Transatlantiker frohlocken”
Ich bleibe dabei. Die Wahl Bidens impliziert für die deutsche Politik erst einmal gar nichts, es ist eine US-Wahl. Wer daraus eine Notwendigkeit zur Erhöhung deutscher Rüstungsausgaben ableiten will, tut so, als werde Deutschland aus Washington reagiert. Dem ist aber nicht so
— Eric B. (@LostinEU) November 8, 2020
Kostas Kipuros
10. November 2020 @ 11:45
Kostas
Die Frage, ob sich Merkel ihren US-amerikanischen Mentoren unterwirft oder andient, lässt sich leicht anhand der Videos beantworten, in denen sie Ex-Bundeskanzler Schröder mit einer für sie ungewöhnlichen emotionalen Vehemenz dafür kritisiert, Deutschland nicht mit in den Krieg gegen den Irak geführt zu haben. Mehrfach zu sehen bei YouTube. Schon damals war fremdschämen angesagt für eine Politikerin, deren Loyalität eher einer ausländischen Macht galt und gilt, als den Interessen des eigenen Landes. Die Geschichte (im Sinne von Angelegenheit) wiederholt sich also.
Wenn es richtig ist, dass sich das globale geostrategische Gewicht hin zu China und weg von den USA verschiebt, dann setzt Merkel mit der nächsten US-Regierung nicht nur auf den falschen Partner, sondern ist sogar bereit, mit ihm einen eigenen Bedeutungsverlust zu riskieren.
Das verwundert umso mehr, als es Merkels oberstes geostrategisches Ziel ist, Deutschland zu einem global Player zu machen. Wie das ohne Großbritannien, ohne und sogar gegen Frankreich, mit einer zerfasernden EU, gegen China (von dessen Importen man sich andererseits abhängig gemacht hat) und gegen Russland gelingen soll, bleibt freilich ihr Geheimnis.
ebo
10. November 2020 @ 11:51
Interessante Analyse, danke! Ich denke auch, dass Merkel das Ziel verfolgt, Deutschland zu einem Global Player zu machen. Dabei hat sie ich bis zum Brexit auf die USA und UK gestützt, danach teilweise auf Frankreich und China. Jetzt sind wieder die USA dran – es ist eine opportunistische Schaukelpolitik, die mit den viel beschworenen Prinzipien und Werten wenig zu tun hat. Frankreich kommt dabei eine unglückliche Rolle zu – denn es gibt die Impulse und liefert die Stichworte, doch die Ziele definiert Merkel. Es geht eben nicht um europäische Souveränität oder “strategische Autonomie”, sondern um den deutschen Platz an der Sonne…
European
10. November 2020 @ 22:42
Biden wird für solche Spielchen keine Zeit haben. Das wird auch Angela Merkel merken müssen, denn viel Zeit bleibt ihr bis zur Wahl 2021 auch nicht mehr. Wer dann kommt, wird man sehen. Auf Seiten der CDU sehe ich da schwarz – sprichwörtlich. Da ist kein fähiger Kandidat dabei, der gemeinsam mit Macron Akzente für ein starkes Europa bauen könnte.
Die USA ist zerrissener denn je und wenn das Team Biden/Harris nicht aufpasst, schlägt der Trumpism 2024 wieder zu. Das ist eine echte und ernste Drohung. Heißt also, dass vornehmlich innenpolitische Themen überwiegen werden. Corona, wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen, Jobs, innere Stabilität. Die europäische Überschusswirtschaft hat schon Obama gestört und Biden wird an den Zöllen nichts gravierendes ändern werden. Wozu auch? Europa ist weit weg.
Holly01
11. November 2020 @ 08:57
@ European:
Es ist ziemlich klar, wie Biden vorgehen wird. Um eine rudimentäre Produktion in die USA zurück zu holen, muss er ausländische Produkte verteuern, also besteuern.
Die USA werden viele Probleme (auch die Schulden) weg inflationieren.
Ich gehe von Inflationsraten von etwa 8%-10% aus (reale Prozente, also nach Zins, der bleibt negativ).
Biden wird also Löhne anheben und Inflation importieren, gleichzeitig Geldvermögen in der Kaufkraft senken.
EU? Die wird einen starken Dollar akzeptieren müssen und selbst ihre Märkte öffnen, damit die USA verkaufen können. Ich sehe da eine “Überschrift” Ausgleich und Gerechtigkeit. Primär wird das zuerst IT und Militaria sein, das haben die ja schon.
Ende mit Eigenentwicklung. Gekauft wird was auf den Tisch kommt.
Außerdem werden überall “Middelman” eingebaut.
So wie Amazon als Zwischenhändler auftritt, so werden das Google und die anderen auch tun. Bezahlplattformen, Softwarelösungen (Cloud), Mietsysteme usw usf, eben alles womit man Geld ableiten kann.
Den USA wird es in 4 Jahren besser gehen. Die EU wird jede Krise voll mitnehmen (und das werden mindestens 2 Schübe sein, weil die USA dringend Geld brauchen für Zinsen).
UK? Gute Frage. Boris J. aus L. ist in der sehr akuten Gefahr zwischen den Blöcken pulverisiert zu werden.
Die EU kann nur auf seine Dummheit setzen. No deal bedeutet erhebliche Mittel und Märkte können aus dem UK in die EU geholt werden.
Das UK wird in 4 Jahren erheblich ärmer sein. Sogar das reiche UK wird das extrem zu spüren bekommen. Das wird von einem sehr schwachen Pfund über einbrechende Grundstücks- und Immobilienpreise bis zu Abwanderung der “Gast”-arbeiter alles erfassen.
Aber das UK wollte den Brexit ja …. und Boris J. wollten die ja auch ….
vlg
European
9. November 2020 @ 17:31
“Außerdem haben sie unter Ex-Präsident Obama “vertrauensvoll” zusammen gearbeitet.”
Dazu sollte sich jeder einmal die Analysen des Wirtschaftshistorikers Adam Tooze zum Thema Finanzcrash 2008 anhören. Mir war zum Beispiel vorher nicht bekannt, dass gerade Obama einen G2 – Gipfel geplant hatte – USA und China. Auf die Europäer sei aktuell kein Verlass, insbesondere seit dem Angela Merkel und Peer Steinbrück die Finanzkrise ganz und gar den Amerikanern in die Schuhe geschoben, auf Angebote der Zusammenarbeit nicht reagiert und sogar zu Symposien, wo Steinbrück als Redner geladen war, einfach nicht erschienen sind. Natürlich hat Lehman ein Beben ausgelöst, aber die europäischen Banken hatten ihre eigene Zockerkrise und Tooze hat die innereuropäischen Geldflüsse sehr präzise recherchiert, analysiert und auch entsprechend dargestellt. Nix mit anglo-amerikanischem Finanzkapitalismus.
Manchmal kann ich Trump-Wähler verstehen, wenn sie seine Haudrauf-Rhetorik dem salbungsvollen Nichts der Tagespolitik vorziehen. Wohlgemerkt “verstehen”, was absolut nicht gleichzusetzen ist mit “gutheißen”. Aber dieses ständige Geschwubel kann einem durchaus auf den Wecker gehen.
Und wenn Ursula von der Leyen von demokratischen Prozessen spricht, obwohl sie selbst durch die Hintertür nach Brüssel weggelobt wurde, weil sie im millionenschweren Beratersumpf zu versinken drohte, dann habe ich massiv mit aufsteigender Übelkeit zu kämpfen.
https://twitter.com/vonderleyen/status/1325137832080535552/photo/1
Holly01
9. November 2020 @ 16:57
Ich übersetze es Ihnen gerne:
Verantwortung, also sich verantworten ist ein klares Konstrukt.
Man ist jemandem höher gestellten den Nachweis schuldig.
Der höher gestellte (Biden), teilt die zu verantwortenden Inhalte, dem Nachweispflichtigen zu und nimmt ihn (also in dem Konstrukt Merkel-Deutschland) in die Verantwortung.
Das ist eine Unterwerfung.
vlg
ebo
9. November 2020 @ 17:31
Das ist mir zu simpel. Merkel unterwirft sich nicht, sondern sie dient sich an, um (so glaubt sie) gemeinsame Werte zu verteidigen und (so glaube ich) wieder ihre alte Schaukelpolitik in EUropa machen zu können und weniger von Frankreich abhängig zu sein. In Paris wäre ihre Erklärung in dieser Form undenkbar gewesen, dort würde man von europäischer Souveränität und gleichberechtigter Partnerschaft sprechen.
European
9. November 2020 @ 17:41
Das dürfte auch etwas mit Macron zu tun haben. Wenn sie auf seine Vorschläge eingeht, räumt sie damit ein, dass ihre zerstörerische neoliberale Politik – Löhne runter, Wettbewerb jeder gegen jeden, Gesundheitssysteme runter, Auflösung der Sozialsysteme etc – nicht nur komplett daneben gelegen hat, sondern Europa vor die Wand gefahren hat. Sie würde damit in Europa ihre Position schwächen. Mit Biden kann sie wunderbar ablenken.
Heindoofi
9. November 2020 @ 18:37
“Merkel unterwirft sich nicht, sondern sie dient sich an”…..oder vielleicht besser versucht die Möglichkeit zum hinten reinkriechen nicht zu gefährden…