Machtverfall in Berlin – und Brüssel?
In seinem Buch “Machtverfall” beschreibt der Journalist Robin Alexander das Ende der Merkel-Ära in Berlin. Es liest sich wie ein Krimi – und lässt nichts Gutes für die Zeit nach der Bundestagswahl ahnen. Doch was bedeutet das für Brüssel und die EU?
Die berühmte Netflix-Serie “House of Cards” hat uns den Nihilismus und die Verlogenheit der US-Politik eindringlich vor Augen geführt. In Europa wäre so etwas undenkbar, dachten wir bisher.
Doch wir haben uns getäuscht. Das Buch “Machtverfall” zeigt, dass auch die deutsche Politik einem Kartenhaus gleicht. Ausgerechnet die “mächtigste Politikerin des Westens” – Kanzlerin Angela Merkel – hat ausgespielt.
Der “Welt”-Journalist Robin Alexander erzählt die Geschichte ihres unrühmlichen Abgangs wie einen Krimi. Zu Beginn ist Merkel noch die “Retterin des freien Westens”, ihre historische Mission wird ihr von US-Präsident Obama höchstpersönlich erteilt.
Zum Schluß ist sie nicht einmal mehr willens und in der Lage, ihr eigene Partei – die CDU – zu retten. Der Versuch, ihre Nachfolge zu regeln (mit Kramp-Karrenbauer) ist gescheitert, die Söders, Laschets, Merzen und Spahns erledigen den Rest.
Alexander kennt nicht nur die Namen, sondern auch die geheimen Orte und die faulen Tricks, mit denen Merkel und ihre “Parteifreunde” sich gegenseitig fertig machen. Er arbeitet wie ein Detektiv auf Spurensuche – und überführt fast alle als schuldige Täter.
Das alte deutsche Narrativ
Mich haben vor allem die Passagen zur Europapolitik interessiert. Da leistet sich Alexander ein paar Berlin-typische Schwächen – etwa, wenn er das Ringen um die neue EU-Kommission schildert, als habe Merkel gesiegt (und die Rolle Macrons ausblendet).
Auch die Darstellung Merkels als erfolgreiche “Krisenmanagerin” greift zu kurz. Die Kanzlerin hat fast alle Krisen in der EU unnötig verlängert, sie teilweise – wie die Schuldenkrise um Griechenland 2015 – sogar selbst provoziert.
Hier fügt sich Alexander in das allzu bequeme deutsche Narrativ, demzufolge Deutschland und seiner Kanzlerin die Rolle zufalle, die EU zu “retten” und den Laden zusammenzuhalten. Zuletzt hat der frühere Kommissionschef Juncker diesen Mythos auseinander genommen.
An anderer Stelle geht Alexander aber auch sehr hart mit Merkel und ihrer Parteifreundin von der Leyen ins Gericht. So wird das deutsch-europäische Impfdebakel zu einem Menetekel:
“Der vermasselte Impfstart der EU ist ein Wendepunkt in der Pandemie. Er hat der Staatengemeinschaft historischen Schaden zugefügt – und das in einer Phase, in der mit Ursula von der Leyen eine Deutsche an der Spitze der EU-Kommission steht und mit Angela Merkel die deutsche Kanzlerin EU-Ratspräsidentin ist. Er hat das Potential, das Bild Merkels in den Geschichtsbüchern zu verdunkeln. Und die Bundestagswahl zu entscheiden.”
Machtverfall. S. 295
Dass das Impfdebakel die Bundestagswahl entscheidet, scheint denn doch ein wenig weit hergeholt. Denn Merkel, von der Leyen & Co. tun alles, um das Debakel als glänzenden Erfolg zu präsentieren. Und der Wahlkampf dreht sich um ganz andere Themen.
Zudem lässt Alexander eine entscheidende Frage unbeantwortet: Was bedeutet der “Machtverfall” eigentlich für Deutschland und die EU? Haben wir es mit einem einfachen Politikversagen zu tun – oder mit einer Systemkrise?
Nach dem Impfdebakel gab es ja auch noch die Hochwasser-Katastrophe und das Afghanistan-Desaster. Viele Menschen lässt das an der Politik (ver-)zweifeln. Und mir fallen noch weitere Fragen ein.
Ein Machtvakuum in Brüssel?
Könnte Merkels Abgang auch von der Leyen schwächen – und Macron stärken, wie der “Spiegel” glaubt? Oder schlägt nun die Stunde der “Frugal four” und anderer EU-Gruppen, die schon lange mit der deutsch-französischen “Führung” hadern?
Führt der Niedergang der deutschen Christdemokraten, den Alexander so genüsslich und detailreich schildert, am Ende zu einem Machtvakuum in der EU, die jahrzehntelang von CDU, CSU und EVP dominiert wurde? – Fragen über Fragen.
Klar ist, dass Merkels Machtverlust sich auch schon in Brüssel bemerkbar gemacht hat. Doch wie es ohne die Kanzlerin in EUropa weitergeht, wird sich erst nach der Bundestagswahl zeigen. Es wird die wichtigste Europawahl seit vielen Jahren…
Das Buch “Machtverfall” können Sie hier erwerben (Affiliate-Link zu Amazon). Weitere Buch-Empfehlungen hier, mehr zu Merkel hier
Art Vanderley
24. August 2021 @ 19:58
Erinnert irgendwie ans Ende der 60er.
Eine völlig verbrauchte Union, eine aufkommende SPD, über deren neue Werte sich das dort etablierte Personal nicht zu früh freuen sollte, eine FDP im Umbruch.
Ein sich neu abzeichnendes Bündnis aus freiheitlicher Linken und Werteliberalen.
Eine Menge Menschen, die sich nicht mehr repräsentiert fühlen im Parlament.
Ein westlicher Auslandseinsatz, der in einem teilweisen Desaster endet.
Eine ökologische Basisbewegung, die in Teilen einen ziemlichen Stuß verzapft, wie seinerzeit Teile der 68er…..wie könnte das weitergehen?
El Zorro
25. August 2021 @ 11:21
Antwort: Mit rechten Dingen!
Art Vanderley
25. August 2021 @ 19:07
Kann man nicht ausschließen. In den 60ern gab es auch einen starken Aufstieg der (damals sogar extremen) Rechten, der gegen Ende immer stärker und 1967 am stärksten war.
Nur zwei bis drei Jahre später waren die Rechten nicht nur geschwächt, sondern schlicht verschwunden, unter “sonstige Parteien”.
Was also war passiert, das ist eine hochspannende Frage auch für unsere aktuelle Situation.
Zwischendrin gabs die Explosion von 68, und da sollte man doch meinen, die Rechten werden noch viel stärker, als Gegenreaktion. Das genaue Gegenteil aber war der Fall und das kann nur mit 68 zusammenhängen.
Was also war passiert?
El Zorro
24. August 2021 @ 11:08
Apropos “Impfdebakels” letzter Stand: Die Dominanz von PCR-Tests und Inzidenz ist plötzlich out. “Fälle”, die keine waren, aber fleißig gezählt wurden, werden langsam wieder zu dem, was sie immer hätten sein sollen: Krankheits-Fälle, die – a priori – an der Hospitalisierung zu messen waren. Hinter uns liegen 18 vertane Monate-, vor uns ein unermesslicher Schaden.
Armin Christ
24. August 2021 @ 08:41
Vielem im „european“-Kommentar ist zu zu stimmen. Aber: Macron würde ich nicht wählen, denn er ist ja gerade ein Exponent der im ersten Abschnitt kritisierten Finanzoligarchie.
Die Kritik von Robin Alexander ist scheinheilig, denn er war die ganze Zeit ein Merkelfan, Stockreaktionär und atlantisch. Aber er muss jetzt nach außen zeigen, daß Kritik ncht nur von links kommt und er hat auch die Aufgabe die Menschen vom afd-wählen ab zu halten.
european
24. August 2021 @ 12:42
Sie haben Recht. Macron kommt aus der Finanzoligarchie. Im Gegensatz zu vielen anderen konnte man bei ihm aber einen deutlichen Lernprozess feststellen. Zum einen sein Bestreben nach europäischer Souveränität, was ich immer unterstütze 🙂 und – was für mich der entscheidene Augenblick war – The moment of truth. Das Interview das er der Financial Times gegeben hat. Da saß ein völlig anderer Macron.
https://www.youtube.com/watch?v=DPGfKhCICC0
Ohne Macron hätte es auch das europäische Investitionspaket nicht gegeben. Es war zwar von Scholz und LeMaire initiiert, aber da schon Merkel dagegen war, wäre das ohne Macron’s Unterstützung nichts geworden.
Mir hat auch gefallen, dass er von dem Dogma der “Liberalisierung” irgendwann abgelassen hat und – statt noch mehr Druck auf die Arbeiter auszuüben – sehr stark in die Binnenwirtschaft investiert hat. Von deutscher Seite wurde das sofort mit Fingerzeig und Schuldenmachen, Bruch der Maastrichtkriterien etc. abgewatscht. Aber – siehe da – auch mit Binnenwirtschaft lässt sich das BIP steigern und so war nach kurzer Zeit keine Rede mehr von der “Übertretung der Maastrichtkriterien”
Man muss auch immer sehen, wer aktuell als Alternative antritt. Die Konservativen leiden immer noch unter dem Sarkozy-Dilemma, Mélenchon ist keine Alternative, LePen schon gar nicht. Da gibt es noch Bertrand, aber seine Aussichten als Parteiloser eine Landesregierung zu bilden dürften schwer sein.
Unter den gegebenen Bedingungen wäre Macron für mich tatsächlich die erste Wahl.
Ist ja in Deutschland auch ähnlich. Bei dieser Wahl muss ich 2 Fäuste in der Tasche machen. Eine wird nicht reichen. 😉
european
23. August 2021 @ 18:06
Ganze Bücher könnte man dazu schreiben um sich den Frust von der Seele zu reden.
Merkel hinterlässt ein ausgelaugtes Deutschland und ein verbranntes Europa. Die Bankster zahlen sich wieder satte Boni während die normale Bevölkerung sich kaum noch etwas leisten kann, zumindest die untere Hälfte. Ganze Länder wurden den Regeln der Finanzmärkte unterworfen anstatt die Finanzmärkte zu regulieren. Überall sieht man die Erstarkung der Nationalisten. Wen wundert es noch?
Sie ist es nicht allein gewesen, aber der vermeintliche Erfolg der Deutschen, nachdem sie in Europa den Wettbewerb über die Löhne anstelle der Produkte geführt haben, hat dem Land mehr Gewicht gegeben als ihm gut getan hat – und Europa auf ganzer Linie geschadet. Natürlich dürfen wir in einem Binnenmarkt 9% Überschüsse haben, die anderen aber nur 3% Defizite. Wenn man sich das Griechenland-Desaster ansieht, dann gehört Schäuble eigentlich vor Gericht und nicht nochmal in den Bundestag.
Wenn Macron nun stärker wird – so be it. Meinen Segen hat er dazu. Wenn ich ihn wählen dürfte, würde ich das tun. Insbesondere, wenn man sieht, wer sonst noch so antritt. Wenn man auf ihn schon 2017 gehört hätte, wäre m.E. die Pandemie in Europa nicht so verheerend gewesen. Wenn vdL darüber stolpern sollte, wäre das gut für Europa. Ich habe dieser Tage Timmermans zugehört und noch einmal zutiefst bedauert, dass er den Posten nicht bekommen hatte. Klartext über die Erneuerung der Maastrichtkriterien, Klartext über Austerität und Investitionen. Der braucht auch keinen teueren Berater dafür, ob seine Frisur sitzt.
Bei Robin Alexander bin ich mir nie sicher, wo er wirklich steht. Er war mir allzu lang viel zu sehr merkelfreundlich und viel zu unkritisch ihrer Politik gegenüber.
Mir liegt sehr viel an diesem Europa, schon wegen meiner Familie und auch weil dieses Europa für alle ein gutes Zuhause werden könnte, wenn man es nicht zum Selbstbedienungsladen für die eigenen Befindlichkeiten erklärt hätte.
Die Merkeljahre haben uns weiter denn je davon weggebracht. Ich finde das extrem frustrierend und traurig.
Art Vanderley
24. August 2021 @ 19:52
“Merkel hinterlässt ein ausgelaugtes Deutschland und ein verbranntes Europa. ”
Das ist in der Tat frappierend und in dieser Dimension neu.