Die größte Abhängigkeit
Nach Russland will sich die EU auch aus der Abhängigkeit von China lösen. Doch über die größte Abhängigkeit spricht keiner – die von den USA. Dabei könnte sie nach den Midterms verdammt wichtig werden, auch für die Ukraine.
Die Abhängigkeit von den USA hat viele Facetten, hier ein paar Beispiele:
- Militärisch – wenn die USA sich aus dem Stellvertreter-Krieg in der Ukraine zurückziehen, wird es für die EU ernst.
- Wirtschaftlich – wenn die USA einen Schnupfen bekommen, hat die EU eine schwere Grippe, wie zuletzt in der Finanzkrise.
- Handelspolitisch – wenn die USA den Markt abschotten und “America first” praktizieren, wandern unsere Unternehmen ab, wie derzeit.
- Energiepolitisch – wenn die USA kein schmutziges Fracking-Gas liefern, gehen in Deutschland die Lichter aus
- Demokratisch – wenn Trump oder andere Populisten die Macht übernehmen, muss sich die EU warm anziehen.
Dummerweise geht von der amerikanischen Demokratie derzeit wohl die größte Gefahr aus. Dass die demokratische Ordnung, die als Säule der transatlantischen “Wertegemeinschaft” gilt, gefährdet ist, räumt sogar US-Präsident Biden ein.
Kurz vor den Zwischenwahlen am Dienstag warnte Biden vor dem Niedergang der Demokratie in seinem Land. Ein Trump-Sieg könne das Ende bedeuten, behauptet er – was eine paradoxe Aussage ist. Denn ohne Wahl und Wechsel gibt es auch keine Demokratie.
So oder so wird Amerikas fragile Demokratie zur Gefahr für Europa, wie das Handelsblatt korrekt analysiert. Denn die EUropäer haben sich seit dem Ukraine-Krieg noch abhängiger von den USA und von Biden gemacht als zuvor.
Wenn der Wind in Washington dreht und weniger Geld oder Waffen in die Ukraine fließen, werden dies die EUropäer unmittelbar zu spüren bekommen. Dann müssen sie entweder auch umdenken – oder noch tiefer in den Krieg einsteigen.
Erstaunlich, dass diese Abhängigkeit bisher kaum thematisiert wird. Dabei tangiert sie Europas Interessen mindestens genauso sehr wie jene von China..
Siehe auch “Wo bleibt Europas Interesse?”
P.S. Sehr treffend die Zeile von “Politico”: “Die EU schlafwandelt in die US-Midterms”, schreibt das Springer-Portal heute. Allerdings wird die Abhängigkeit Europas dann gleich wieder umgedeutet – in einer Art Bringschuld der EU gegenüber den USA und der Ukraine…
KK
7. November 2022 @ 12:55
@ Arthur Dent:
“Die EU-Kommission ist auch Oberaufseher über die nationalen Haushaltspläne…”
Solange solch ein Blödsinn wie die “Schuldenbremse” in Deutschland Verfassungsrang hat (und, nebenbei bemerkt, immer wieder aus den unterschiedlichsten Gründen, die – meisst unvorhersehbar – eine solche Schuldenbremse eben immer wieder zu einem fiskalischen Hemmschuh machen) durch Schattenhaushalte umgangen wird, was dann letztendlich die ganze Verfassung diskreditiert, ist der “Oberaufseher” doch nur ein nachrangiges Problem!
Ute Plass
7. November 2022 @ 09:40
“Und finden es nicht einmal nötig, sich zu rechtfertigen – für die entgegengesetzte Politik der Vergangenheit!”
Stimmt, wiewohl davon auszugehen ist, dass es sich dabei auch weiterhim um Schumpeters hoch gelobte “kreative Zerstörung” handelt?!
Ute Plass
7. November 2022 @ 10:28
Aufschlussreich für die weitere Debatte:
ATLAS DER WELTWIRTSCHAFT 2022/23
Zahlen, Fakten und Analysen zur globalisierten Ökonomie
https://www.nachdenkseiten.de/?p=90070#more-90070
Arthur Dent
6. November 2022 @ 23:51
sind die Kosten kalkulierbar für „Weniger Markt wagen“? Mit diesen Unabhängigkeitsbestrebungen sind nämlich massive Wohlstandsverluste und allerlei soziale Verwerfungen vorprogrammiert. Und wo wir gerade dabei sind – aus demokratietheoretischer Sicht ist der Euro jedenfalls gescheitert. Mit der Gemeinschaftswährung ist eine autonome Geldpolitik nicht mehr möglich, wir sind den Launen der Finanzmärkte ausgesetzt. Die nationalen Demokratien können nicht mehr mittels Mehrheitsbeschluss effektiv regieren, da sind die Stabilitätskriterien vor. Die EU-Kommission ist auch Oberaufseher über die nationalen Haushaltspläne…usw. Und wenn unser Kanzler eine China-Reise macht, dann ist aber Rauschen im Blätterwald. Das muss mit Hinz und Kunz abgestimmt sein. Reicht schon, dass wir uns nun fortwährend dafür entschuldigen müssen, weil wir die letzten 70 Jahre nach Frieden und Wohlstand gestrebt haben.
ebo
7. November 2022 @ 08:22
Das finde ich auch bemerkenswert. Dieselben, die gestern noch das hohe Lied von Liberalisierung und Globalisierung sangen, wollen heute absichern und abschotten. Und finden es nicht einmal nötig, sich zu rechtfertigen – für die entgegengesetzte Politik der Vergangenheit!
KK
6. November 2022 @ 22:10
@ ebo:
„Grundsätzlich ist es ja zu begrüßen, dass die EU endlich über Abhängigkeiten spricht und eine “strategische Autonomie” anstrebt.“
Sie spricht aber nur einseitig von „Abängigkeiten“ – nämlich nur von denen, die gerade von den USA als „terra non grata“ eingestuft werden. Denn sonst hätte man zB auf der arabischen Halbinsel keine Bücklinge machen und Mörderhände schütteln dürfen, in Aserbaidschan kein Gas kaufen oder der TR Milliarden via Flüchtlingsdeal in die Kassen spülen dürfen.
Und solange man den USA derart ins Rektum kriecht, kann eine „strategische Autonomie“ nicht weiter entfernt sein. Die strategische Autonomie hätte bis vor einigen Jahren noch erreicht werden können, da waren aber einige osteuropäische Staaten wie Polen oder die Balten diejenigen, die dies durch immer engere Bindung an die USA regelrecht torpediert hatten. Und ich war von Anfang an der Meinung, dass die Osterweiterung der EU (und einhergehend der NAhTOd) vor einer vertieften europäischen Integration inklusive Verfassung zu früh und völlig unnötig überhastet war. Jetzt haben wir den Salat.
european
6. November 2022 @ 17:56
Dazu die Financial Times vor 2 Tagen
https://www.ft.com/content/1f3a7a41-daa8-49c5-ab51-3c0822421e40
„US adds 261,000 jobs in continued sign of robust labour market“
„Despite these gains, the unemployment rate ticked up to 3.7 per cent, just above its pre-pandemic low.“
Die Eurozone feiert aktuell eine Durchschnittsarbeitslosenquote von 6.6%, sagt die ZEIT
https://www.zeit.de/news/2022-11/03/eurozone-arbeitslosenquote-sinkt-auf-rekordtief
KK
6. November 2022 @ 17:17
Ich spreche da im Bekanntenkreis seit vielen Jahren von, wollte aber keiner hören! Und allerspätestens nach der Wahl Trumps hätte doch jedem grenzdebilen Transatlantiker klar sein müssen, dass die USA völlig unberechenbar sind und sich dort nach jeder Wahl – und aus wahltaktischen Gründen auch jederzeit zwischen diesen, also jederzeit – der Wind um 180 Grad drehen kann.
Das einzige, was bei den USA jederzeit völlig berechenbar ist und bleibt: Sie gehen um des eigenen Vorteils Willen über Leichen, auch über die sogenannter “Freunde” oder “Verbündeter”.
Sich bei der – teuren – Energie von den USA mindestens ebenso abhängig zu machen wie von Russland ist nicht nur ökonomischer Unsinn, sondern auch ökologisch völlig unzeitgemäss; beides kommt einem Seppuku gleich.
Russland war jahrzehntelang ein verlässlicher und günstiger Lieferant nicht nur für Deutschland. Die USA können in Bezug auf den zwischen Europa und Russland getriebenen Keil durch jahrelange gezielte mediale Beeinflussung und strategischer Machtspielchen einmal mehr konstatieren: Mission accomplished!
ebo
6. November 2022 @ 17:53
Grundsätzlich ist es ja zu begrüßen, dass die EU endlich über Abhängigkeiten spricht und eine “strategische Autonomie” anstrebt. Solange UK noch Mitglied war, war dies gar nicht möglich. Auch die merkantilistische Politik von Frau Merkel hat jede ernsthafte Debatte verhindert. Damit es es nun vorbei, zum Glück.
Doch nun werden sogar normale, für beide Seiten vorteilhafte Handelsbeziehungen als gefährliche Abhängigkeit gebrandmarkt, was für eine interdependente Handelsmacht wie die EU überhaupt keinen Sinn macht. Zugleich werden viel handfestere Abhängigkeiten komplett ausgeblendet, wie das Beispiel der USA zeigt.
Die Transatlantiker haben ganze Arbeit geleistet – doch auch ihnen könnte bald das Lachen vergehen…