„180-Grad-Wende der deutschen Europapolitik“

Erst die „Bazooka“, nun der „Wumms“: In der deutschen Finanzpolitik purzeln gerade reihenweise die Tabus. Doch auch auf EU-Ebene hat sich Berlin bewegt – und zwar in die richtige Richtung, findet der grüne Finanzexperte Sven Giegold. Ein Interview.

Die EU-Kommission will ein 750 Milliarden Euro schweres Wiederaufbau-Programm mit Schulden finanzieren. Auch Kanzlerin Angela Merkel hat sich für EU-Schulden ausgesprochen – dabei war sie bisher immer strikt dagegen. Was sagen Sie zu dieser Wende?

Das ist eine 180-Wende der deutschen Europapolitik. Im übrigen ein verzögertes Echo der Europawahlen im letzten Jahr. Dort haben die Wähler für mehr Europa gestimmt. Und jetzt werden tatsächlich eine ganze Reihe falscher deutscher Europa-Tabus abgeräumt. Kaum zu glauben, dass nun selbst Wolfgang Schäuble und Friedrich Merz für schuldenfinanzierte EU-Programme sind! Das ist ein Erfolg für uns Pro-Europäer.

Welche Tabus meinen Sie?

Ich meine die EU-Steuern, was eine europäische Digitalsteuer sein könnte, Zuschüsse statt Kredite und die gemeinsamen Haftung. Die Christdemokraten und vor allem die CSU wollten bisher nie EU-Steuern – nun gibt es plötzlich eine große Offenheit in dieser Frage. Deutschland wollte auch nie Transfers – doch jetzt soll es 500 Milliarden Euro an nicht rückzahlbaren Zuwendungen geben. Und was die Schulden betrifft, so hieß es noch bis vor kurzem in Berlin: Coronabonds machen wir auf keinen Fall! Aber nun kommen Bonds in Coronazeiten. Das stärkt Europa!

Aber die Schulden sollen die absolute Ausnahme bleiben, Merkel spricht von einer einmaligen Sondermaßnahme.

Alle Budgets sind einmalig. Entscheidend ist doch, dass wir nun einen ganz anderen Diskurs in Deutschland haben. Europas Zusammenhalt braucht eine gemeinsame und solidarische Investitions- und Fiskalpolitik in Europa. Nur FDP und AfD haben den Schuss nicht gehört…

Wie erklären Sie sich diese Wende?

Wir wissen nicht, was die wahren Motive waren. Aber ich denke schon, dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Anleihekäufen der Europäischen Zentralbank eine Rolle gespielt hat. Ich halte dieses Urteil für fragwürdig und europarechtlich gefährlich – aber es hat auch eine Debatte in Deutschland ausgelöst, dass wir nicht alle Krisen der EZB zur Lösung überlassen dürfen. Herr Voßkuhle verdient vielleicht doch noch einen Blumenstrauß…

Welche Rolle spielt Frankreichs Präsident Macron? Er versucht ja schon seit Jahren, Merkel für eine andere EU-Politik zu gewinnen, hat er sich nun durchgesetzt?

Es war ein großer Fehler von Merkel, dass sie auf Macrons Initiativen so lange nicht eingegangen ist. Zuletzt ist Macron deshalb einen Umweg gegangen und hat andere Länder ins Boot geholt – nicht nur bei den Coronabonds, sondern auch in der Klimapolitik. Damit hat er Merkel unter Druck gesetzt. Großen Eindruck hat aber wohl auch Italien gemacht. Dass in der Coronakrise in Italien die Unterstützung für die EU den Bach hinunterging, hat in Berlin die Alarmglocken schrillen lassen. Und dann liest die GroKo natürlich auch die Meinungsumfragen. Und dort zeigt sich, dass die Mehrheit der Deutschen eben doch nicht so geizig ist, wie man bisher immer dachte. Die meisten verstehen durchaus, dass die Hilfe nötig ist.

Die Hilfe hat aber auch eine Kehrseite: Die EU muss die Schulden bis 2058 lang mühsam abtragen, das EU-Budget wird über Jahre hinaus eingefroren, Zuschüsse sollen an wirtschaftspolitische Auflagen gebunden werden…

Der Schuldendienst wird über 38 Jahre gestreckt. Das ist so lang, dass die Tilgung makroökonomisch keine Rolle mehr spielt. Dass der EU-Finanzrahmen nicht erhöht wird, ist ein Zugeständnis an die Geizigen Vier. Aber die 750 Mrd. Euro für den Wiederaufbau bedeuten de facto dann doch wieder ein höheres EU-Budget. Allerdings könnte es auch falsche Opfer geben. So soll das Bildungsaustausch-Programm Erasmus nicht weiter erhöht werden. Hierfür muss das Parlament kämpfen..

Und was ist mit den Auflagen? Die EU-Kommission will sie mithilfe des „Europäischen Semesters“ durchsetzen, dabei ist das ein massiver Eingriff in das Budgetrecht der nationalen Parlamente, ohne demokratische Kontrolle !

Richtig, deshalb geht es nun darum, das Europäische Semester zu parlamentarisieren. Es wäre gut, wenn das Semester nun keine bürokratische Übung ohne Bindungswirkung bleibt, wie bisher. Bisher hatten etliche Empfehlungen aus Brüssel eine marktliberale Schlagseite. Daher müssen die Empfehlungen nun parlamentarisch mitbeschlossen werden. Sonst droht eine Festlegung von Investitionsprioritäten ohne Parlamentsbeschlüsse.

Was wird aus dem „European Green Deal“? Viele Grüne, aber auch Sozialdemokraten und Linke kritisieren, dass er in dem Entwurf aus Brüssel verwässert wird.

Die Gefahr ist real, denn nur 25 Prozent des nächsten EU-Budgets sollen explizit für den Kampf gegen den Klimawandel eingesetzt werden. Klimaschutz muss der Baustoff für den wirtschaftlichen Wiederaufbau sein. Merkel und von der Leyen müssen mehr für das Klima tun, wenn sie die Zustimmung des EU-Parlaments wollen. Uns kommt es nicht nur auf die Höhe der Zuschüsse, sondern auch auf die Qualität der Ausgaben an. Da sind wir noch nicht am Ziel.

Was ist mit den „Sparsamen Vier“ und den anderen EU-Staaten? Sie müssen noch zustimmen und könnten den Wiederaufbau und den Green Deal wieder verwässern.

Von Österreichs Kanzler Kurz kommen schon erste Kompromisssignale. So interpretiere ich es jedenfalls, wenn er von einer Schuldenunion redet – denn die hat ja keiner vorgesehen! Aber selbst, wenn sich Kurz doch noch querstellen sollte: Am Ende machen Österreich und die „Geizigen Vier“ nicht einmal 10 Prozent der Bevölkerung aus. Die großen EU-Staaten Deutschland, Frankreich, Spanien und Italien stehen hinter dem Vorschlag. Dass dies trotz der Renationalisierung in der Coronakrise gelungen ist, ist ein großer Schritt nach vorn.

Eine leicht gekürzte Fassung dieses Interviews ist in der „taz“ erschienen. Mehr zum Thema hier