Ein Staat wird kaputt gespart
Nach Italien erlebt nun auch Belgien einen Generalstreik. Betroffen sind sogar die EU-Außenminister, die beim Essen mit Sandwiches abgespeist werden. Die Diplomaten nehmen es mit Humor – dabei ist die Lage ernst.
Es geht nämlich nicht “nur” um die Rente mit 67, das Ende des automatischen Inflationsausgleichs bei den Löhnen und ähnliche, mittlerweile in der ganzen EU übliche soziale Zumutungen.
In Belgien geht es auch oder sogar vor allem darum, dass hier ein Staat gescheitert ist und nun systematisch abgewickelt wird. Das Thema ist also nicht “nur” der Sozialabbau, sondern ein Staatsabbau.
Erst am Freitag meldete der belgische” Soir”, dass die neue Regierung 18 Botschaften weltweit schließen will – eine direkte Folge der Sparmaßnahmen, die Brüssel (EU) Brüssel (BE) vorschreibt.
Vor ein paar Wochen war bekannt geworden, dass die belgische Armee 1,6 Mrd. Euro einsparen muss – in fünf Jahren werden statt wie bisher 32.000 nur noch 20.000 Soldaten dem Königreich dienen.
Das bedeutet nicht nur eine Schrumpfung um ein Drittel, sondern auch das Ende der meisten Auslandsmissionen, die die belgische Armee bisher für die EU oder die Nato führte. Gemeinsame Außenpolitik: adé.
Kein Wunder, dass die Stimmung bei den Belgiern nahe dem Siedepunkt ist. Nach Polizei und Justiz werden nun auch noch die restlichen staatstragenden Institutionen systematisch kaputt gespart.
Bei der EU-Kommission in Brüssel interessiert das indes niemanden. Im Gegenteil: Sollte der Kahlschlag trotz des Widerstands der Belgier gelingen, ist der rechtsliberalen Regierung der Beifall von Juncker & Co. sicher.
Dann wird es heißen: Na also, geht doch! Frankreich sollte sich an Belgien ein Beispiel nehmen…
P.S. Fast hätte ich es vergessen: Belgien ist ein Paradies für reiche Anleger – mit eigenen Tax rulings à la Luxemburg, wie gerade herauskam. Und die Regierung weigert sich, das Kapital höher zu besteuern,wie es die Gewerkschaften fordern…
Zur Sparpolitik siehe auch “Ist Frankreich noch frei?”. Außerdem einen Hintergrund zu den Motiven des Streiks in Belgien (members only, kostenlose Anmeldung hier)
Martin
17. Dezember 2014 @ 10:12
Apologies for continuing this discussion in English.
You raise an interesting point in that the Belgian state is vanishing in front of the Commission’s eyes — literally just outside the Eurocrats’ office windows. But this is largely due to the fact that the largest party in the Belgian government coalition is one that strives to put an end to Belgium as a single state and proclaim the independence of Flanders.
The decisions that Belgium is making to comply with the EU’s guidelines on cutting back public deficits reflect the desire to cut back the central state and devolve ever more power to the regions that make up the federation. Such decisions are made entirely by Belgians. They are the ones making the political arbitrages — not the Commission, the Council or the ECB.
So, if Belgium decides to cut back spending on the army, scientific research and internationally acclaimed arts institutions such as the Monnaie opera, such (often but not always stupid) decisions are made entirely by the Belgians, not by the EU.
Should Europeans worry about such things? Yes indeed. There are many other regrettable things that are being done in the name of fiscal orthodoxy across the Eurozone that we ought to be worried about.
But the reason why Belgian labour unions have declared a series of strikes isn’t directly related to so-called austerity policies. It is because, contrary to custom, they hadn’t been invited to the government negotiating table (because they were dead set against the government programme anyway.)
And as for Belgium’s future as a state, yes the the long-term outlook probably is desperate. But is the current situation serious? Probably not.
I pray the opposite is true for the EU.
Johannes
16. Dezember 2014 @ 20:55
Was wirklich nervt, ARD, ZDF und Co berichten kaum bis gar nicht über solche wichtigen Dinge.
Europa sei so wichtig, sagen die Journalisten während der Europawahl, ja ja ihr Journalisten.
Ich will nicht über den X-Ten Bombenanschlag in Bagdada informiert werden sondern was bei uns in der Nachbarschaft passiert. Wie war das noch mal, die EU sei so wichtig für uns? Für ARD und Co ist die EU nicht sooooooo wichtig.
Tim
16. Dezember 2014 @ 23:29
@ Johannes
Dazu müßte es bei ARD und ZDF allerdings Journalisten geben, die sich für ihre Themen wirklich interessieren.
Die gibt es meiner Erfahrung nach nicht.
Interessierte öffentlich-rechtliche Journalisten gibt es eigentlich nur in den Kulturredaktionen, vor allem bei Deutschlandfunk und Deutschlandradio Kultur.
Die Politikredaktionen sind im wesentlichen von Leuten besetzt, die eine Art weichen Staatsfunk betreiben.
ebo
16. Dezember 2014 @ 09:19
@Michael
Stabipakt und Fiskalpakt machen nur Sinn, wenn die Wirtschaft wächst und die Inflation bei 2 Prozent liegt. Das waren auch die Annahmen in Maastricht. Sie in einem deflationären Umfeld a la lettre umzusetzen, macht alles nur noch schlimmer
Michael
16. Dezember 2014 @ 08:00
Die Frage, ob die kleinen Leute etwas davon hätten, wenn große Firmen, die im Land wenig mehr als einen Briefkasten haben, hoch besteuert werden, ist nicht einfach zu lösen. Je mehr es sich bei dem Firmensitz nur um einen rechtlichen Sitz mit ein wenig Verwaltung, aber kaum echten Investitionen, handelt, umso leichter kann der beliebig in ein anderes Land verlegt werden (und das ist gerade auch groß in Mode). Bei einem bloßen rechtlichen Sitz fällt auch das moralische Argument, dass eine Firma ja Leistungen des Staates nutze und deshalb mitfinanzieren müssen, weitgehend weg. Es ist auch in absehbarer Zeit nicht damit zu rechnen, dass alle (also eben: wirklich alle) Staaten exakt gleich hoch besteuern. Vor der Hand wird deshalb der nüchtern kalkulierende Politiker davon ausgehen, dass auch seine Wähler mehr davon haben, wenn viele internationale Firmen ganz wenig Steuern in Belgien zahlen, als wenn sie mehr in einem anderen Land zahlen. Darum sind die einzigen, die mit hohen einkommen- und Mehrwertsteuern gepestet werden können, die kleinen Leute, die sich eben nicht mal schnell “delocalisieren” können.
Was die Sparmaßnahmen betrifft – nun, Belgien ist nicht mit vorgehaltener Waffe gezwungen worden, z.B. den Maastrichter Vertrag und den Fiskalpakt zu ratifizieren. Hätten sie halt den Mut gehabt, nein zu sagen. Großbritannien zum Beispiel hat den Fiskalpakt nicht unterschrieben und ist daher nicht an ihn gebunden (und deshalb kann man z.B. den Umgang der EU mit den Schulden Frankreichs und Großbritanniens nicht miteinander vergleichen – Frankreich verstößt gegen Verpflichtungen, die im Zweifel für Großbritannien überhaupt nicht bindend sind).
Nemschak
15. Dezember 2014 @ 13:42
@ebo Ja und nochmals ja. Deshalb gibt es auch eine laufende Diskussion darüber, wie man den Staat effizienter machen kann: Bürokratieabbau, Föderalismusreform, ….. Reform. Alle Reformen tun unterschiedlichen Interessengruppen in unterschiedlichem Ausmaß weh. Gruppenegoismen sind einer Gesellschaft inhärent. Daher ist es Aufgabe der Politik die Belastungen so zu verteilen, dass sie von der Mehrheit akzeptiert werden. Sozialutopien und einseitiges Agitieren bringen uns nicht weiter.
ebo
15. Dezember 2014 @ 14:43
@Nemschak
Schön, dass sie sich als Anhänger nicht nur des Sozial- sondern auch des Staatsabbaus outen. Damit ist das wenigstens mal klar. Ich für meinen Teil will keinen Nachtwächter-Staat. Die Belgier offenbar auch nicht.
Tim
15. Dezember 2014 @ 14:58
@ ebo
Schön, daß man bei Dir gleich Anhänger eines Nachtwächter-Staats ist, wenn man für Reformen plädiert.
ebo
15. Dezember 2014 @ 15:19
@Tim
Belgien ist schon kurz davor. Lies doch einfach mal den Post, oder schau hier in Brüssel vorbei. Arbeitnehmer zahlen in Belgien die höchsten Steuern und Abgaben, Millionäre fast nichts, Großkonzerne auch nicht. Gleichzeitig verfällt das Gemeinwesen, Polizei und Justiz funktionieren kaum noch…
Tim
15. Dezember 2014 @ 10:18
Und überhaupt: Ein Staat mit einer Staatsverschuldung über 100 % und einer Staatsquote über 50 % wird “kaputtgespart”. Man macht sich lächerlich, wenn man das überhaupt noch kommentiert. 🙂
ebo
15. Dezember 2014 @ 10:48
Die Schuldenquote ist nicht höher als in den USA, so what? http://de.statista.com/statistik/daten/studie/165786/umfrage/staatsverschuldung-der-usa-in-relation-zum-bruttoinlandsprodukt-bip/
Nemschak
15. Dezember 2014 @ 11:24
Ein Staat, der sich über 50% des GDP nimmt, bestiehlt seine Bürger. Gut wirtschaftende Staaten kommen mit einem wesentlich geringeren Anteil aus.
ebo
15. Dezember 2014 @ 11:42
Also bestiehlt Deutschland seine Bürger, oder Österreich? http://www.statistik.at/web_de/statistiken/oeffentliche_finanzen_und_steuern/maastricht-indikatoren/oeffentlicher_schuldenstand/ Im Land Berlin sieht es übrigens besonders schlimm aus 🙂
T-Mac
15. Dezember 2014 @ 17:12
@Staatsquote: Und wenn ich nun entgegne, dass diese 50% Staatsquote zu einem guten Teil aus den Sozialversicherungsbeiträgen besteht, der Staat also überhaupt nichts “wegnimmt” (Stichwort: Umlageverfahren)? Übrig bleibt eine Quote von ca. 30%, für Infrastruktur, Rechtssystem, Bildungswesen, uvm.
ebo
15. Dezember 2014 @ 17:43
@T-Mac
Erklär das einfach mal den Belgiern…
Tim
15. Dezember 2014 @ 09:51
Die beiden Landesteile würden wahrscheinlich sehr unterschiedliche Wirtschafts- und Sozialpolitiken fahren, wenn sie unabhängig wären. Eine Minimierung des Zentralstaats ist langfristig wohl die beste, nachhaltigste und demokratischste Lösung.