Lula gibt der EU eine Mitschuld am Ukraine-Krieg
Die EU hat Brasiliens Ex-Präsident Lula da Silva zu seiner Wiederwahl gratuliert. Man freue sich auf die Zusammenarbeit bei Themen wie Ernährungssicherheit, Handel oder Klimawandel, sagte Kommissionschefin von der Leyen. Die Ukraine erwähnte sie nicht – Lula gibt der EU eine Mitschuld am Krieg.
Dies geht aus einem Interview hervor, das das “Time”-Magazin im Mai mit Lula geführt hat. Hier einige Auszüge des Gesprächs zur Ukraine, der EU und Präsident Selenskyj (Hervorhebungen von mir)
Zur Mitschuld der USA und der EU am Ukraine-Krieg:
We politicians reap what we sow. If I sow fraternity, solidarity, harmony, I’ll reap good things. If I sow discord, I’ll reap quarrels. Putin shouldn’t have invaded Ukraine. But it’s not just Putin who is guilty. The U.S. and the E.U. are also guilty. What was the reason for the Ukraine invasion? NATO? Then the U.S. and Europe should have said: “Ukraine won’t join NATO.” That would have solved the problem.
The other issue was Ukraine joining the E.U. The Europeans could have said: “No, now is not the moment for Ukraine to join the E.U., we’ll wait.” They didn’t have to encourage the confrontation.
(But I think they did try to speak to Russia.) No, they didn’t. The conversations were very few. If you want peace, you have to have patience. They could have sat at a negotiating table for 10, 15, 20 days, a whole month, trying to find a solution. I think dialogue only works when it is taken seriously.
Zu Selenskyj:
And now, sometimes I sit and watch the President of Ukraine speaking on television, being applauded, getting a standing ovation by all the [European] parliamentarians. This guy is as responsible as Putin for the war. Because in the war, there’s not just one person guilty. (…)
I don’t know the President of Ukraine. But his behavior is a bit weird. It seems like he’s part of the spectacle. He is on television morning, noon, and night. He is in the U.K. parliament, the German parliament, the French parliament, the Italian parliament, as if he were waging a political campaign. He should be at the negotiating table.
He did want war. If he didn’t want war, he would have negotiated a little more. That’s it. I criticized Putin when I was in Mexico City [in March], saying that it was a mistake to invade. But I don’t think anyone is trying to help create peace. People are stimulating hate against Putin. That won’t solve things! We need to reach an agreement. But people are encouraging [the war].
Kritisch äußerte sich Lula übrigens auch zur EU-Politik gegenüber Venezuela. Es sei ein Fehler gewesen, den Oppositionspolitiker Guaido als Präsidenten anzuerkennen, denn er war nicht gewählt. “You don’t play with democracy”, so Lula. “Bureaucracy can’t substitute politics.”
Den Brüsseler Bürokraten müssen heute noch die Ohren klingeln…
MarMo
1. November 2022 @ 15:00
Ich finde Lulas Analyse absolut zutreffend – ich frage mich nur, wie lange er im Amt bleibt, bzw. ob er ins Amt kommt.
KK
1. November 2022 @ 12:51
@ Kleopatra:
“Eine Verfassung, die nicht nur Männer und Frauen für gleichberechtigt erklärt, sondern auch noch Diverse und abweichende Geschlechter und Gender schützt, Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit, Migrations- oder Fluchtsituation verbietet,…” und später “…man fragt sich, was das in einer Verfassung zu suchen hat.”
Das ist nichts anderes als das, was unser Artikel 3 des GG im Grunde auch schützt; kann es sein, dass Sie nicht auf dem Boden unserer Verfassung stehen, wenn Sie das als Verfassungsgrundsätze anzweifeln?
Armin Christ
1. November 2022 @ 09:15
Die Gratulation von dieser vonderLaien ist vergiftet, wie die Gratulationen eines Biden oder seiner EUropäischen Spießgesell::Innen.
Erinnert sich noch jemand an den herlichen Umgang dieses spezialdemagogischen Außenministers Maas mit Bolsonaro oder diesem Guaido ?
Lula ist gut beraten zu solchen Gestalten Distanz zu halten.
ebo
1. November 2022 @ 09:24
Das hatten wir auch im Blog: Maas vs. Mogherini : Aussenpolitik auf Abwegen
Thomas Damrau
31. Oktober 2022 @ 18:13
Lulas Analyse ist leider nur zu korrekt. Für einen Krieg braucht es immer mehrere Zutaten:
1) einen autokratischen russischen Präsidenten
2) einen US-Präsidenten, der seinen Sponsoren etwas bieten muss
3) einen gescheiterten ukrainischen Präsidenten, der weder Armut noch Korruption in seinem Land abmildern konnte – und daher glücklich ist, im olivern T-Shirt den Kriegshelden geben zu können.
Die Diskussion in der EU beschränkt sich leider nur auf Punkt 1 der obigen Liste.
european
31. Oktober 2022 @ 17:07
Ein kluger Mann.
In der EU denkt man vermutlich bereits über Sanktionen nach, die man gegen ihn verhängen könnte. 😉
KK
31. Oktober 2022 @ 16:49
Heute gabs die ersten Proteste von Bosonaro-Fans gegen Lulas Wahl, Bolsonaro hat ihm m.W. auch bislang nicht gratuliert. Der ist noch nicht im Amt, da gärt es noch. Und wenn er solche Ansichten öffentlich äussert, dann ist auch die CIA alarmiert und wohl auch schon aktiv, da wette ich drauf. Sowas wie ein brasilianischer Maidan würde mich keineswegs überraschen…
european
31. Oktober 2022 @ 17:59
Es gibt sehr viele gute Gründe für tiefes Misstrauen. Eine linke Regierung in Brasilien? Und dann auch noch das Programm? Schutz der Regenwälder? Bürgerrechte und Kampf gegen den Drogenhandel?
https://amerika21.de/2022/06/258800/lula-da-silvas-programm-fuer-brasilien
Nach wie vor bin ich auch misstrauisch gegenüber dem Abstimmungsergebnis zur neuen Verfassung in Chile, die kürzlich abgelehnt wurde. Warum sollten die Chilenen so gegen sich stimmen?
Kleopatra
31. Oktober 2022 @ 19:54
Der chilenische Verfassungsentwurf hat ungefähr jedes zeitgeistige Thema einbezogen, nach meinem Eindruck bis hin zu Spezialregelungen für Autisten (pardon, da gibt es einen korrekteren Ausdruck). Das erinnert an studentische Demonstrationsaufrufe, bei denen jedes Spezialinteresse auch mitberücksichtigt werden muss; aber in einer Verfassung hat das nichts verloren, und das hat manche wohl abgeschreckt. Ihre Annahme, dass „die Chilenen“ da „gegen sich“ bzw. ihre eigne Interessen gestimmt hätten, ist anmaßend; erstens haben nicht alle Chilenen dieselben Interessen und zweitens wissen sie im Zweifel besser, was ihre Interessen sind, als @european.
european
31. Oktober 2022 @ 21:16
@Kleopatra
Nun ja. Wenn man bedenkt, dass die aktuelle Verfassung unter nicht demokratischen Verhältnissen aus der Pinochet-Zeit stammt, dann ist es auch in Europa erlaubt, sich zu wundern.
Wenn man dann noch bedenkt, wie sehr die US-Regierungen seit Generationen in lateinamerikanischen Regierungen nach Belieben herumpfuschen, ganz besonders übrigens in Chile, wo ein demokratisch gewählter – sozialistischer (Merken Sie etwas?) Präsident Allende mit US Unterstützung 1973 weggeputscht und der Diktator Pinochet gestützt wurde. Ich finde, dann darf man sich noch mehr wundern, bzw man sollte mehr Fragen stellen.
Aber Fragen stellen ist dann sowieso nicht mehr Ihr Metier. 😉
ebo
31. Oktober 2022 @ 22:52
Mich hat das Ergebnis in Chile auch überrascht. Genau wie das Interview von Lula, das in Brüssel totgeschwiegen wird.
Wir sollten nicht aufhören, Fragen zu stellen!
Kleopatra
1. November 2022 @ 08:43
2020 wurde in einem Referendum beschlossen, einen Verfassungskonvent einen Vorschlag einer neuen Verfassung ausarbeiten zu lassen; 2022 wurde der Vorschlag dieses Konvents in eine Referendum abgelehnt. Beides sind völlig legitime Vorgänge.
Eine Verfassung, die nicht nur Männer und Frauen für gleichberechtigt erklärt, sondern auch noch Diverse und abweichende Geschlechter und Gender schützt, Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit, Migrations- oder Fluchtsituation verbietet, den Gemeinschaften der Ureinwohner schwer definierbare kollektive Rechte zuspricht (bis zum Recht auf Identität und “Weltsicht” (cosmovisión)? ), “Neurodiverse” (Asperger-Syndrom o.ä.?) schützt, verschiedenste “Identitäten” schützt, nicht nur ein Recht auf Abtreibung, sondern auch eines auf einen würdigen Tod umfasst, wirkt bei erster Lektüre wie ein Sammelsurium alles dessen, was gegenwärtig in progressiven Kreisen en vogue ist, aber man fragt sich, was das in einer Verfassung zu suchen hat. Außerdem ist z.B. Abtreibung ein umstrittenes Thema; die Gleichberechtigung aller Immigranten, womöglich irregulärer, ist wohl in kaum einem Staat populär usw. Aber letztlich ist das alles die Entscheidung der chilenischen Wahlberechtigten, die den Entwurf mit deutlichen Mehrheit abgelehnt haben. (Der letzte in einer Volksabstimmung abgelehnte Verfassungsentwurf war meiner Erinnerung nach von Pinochet vorgeschlagen worden).