Ukrainischer Maximalismus: Wie weit geht “unser Held” Selenskyj?
Zum Besuch von Kanzler Scholz und Präsident Macron in Kiew übte sich der ukrainische Präsident Selenskyj in Maximalismus. Er forderte so viel, dass er eigentlich nur verlieren kann.
Für die Medien ist er “unser Held”. Weil er den russischen Invasionstruppen trotzt und immer etwas zu sagen hat, ist der ehemalige Komiker Selenskyj zu einer Art Übervater der Ukraine und ihrer westlichen Verbündeten aufgestiegen.
Täglich redet er Kanzler Scholz ins Gewissen, seine Wünsche und Forderungen beherrschen die deutschen Talkshows. Doch kurz vorm Kanzler-Besuch in Kiew am 16. Juni ging Selenskyj noch weiter als gewohnt – womöglich zu weit.
Er forderte nicht nur noch mehr und noch modernere Waffen – so viele, dass selbst die USA kaum noch nachkommen. Er erklärte auch, dass die Ukraine alle von Russland besetzten Gebiete zurückerobern will, einschließlich der Krim.
Außerdem hätte er gern den Kandidatenstatus für den EU-Beitritt, ein siebtes Sanktionspaket gegen Russland sowie ein Sonderkonto für den Wiederaufbau, das natürlich auch vorwiegend von der EU finanziert werden soll.
Darfs noch ein wenig mehr sein? Wie wär’s mit Atomwaffen, wie sie Polen ins Gespräch gebracht hat? Oder einem EU-Kommissar, dem Kommissionschefin Ursula von der Leyen alle Wünsche vom Mund ablesen könnte?
Im Ernst: Selenskyj hat jedes Maß verloren. Just in dem Moment, da sein Land völlig von westlichen Finanzhilfen und Waffenlieferungen abhängig geworden ist und den Krieg zu verlieren droht, geriert er sich wie ein Führer (“leader”) der EU.
Das ist keine ernstzunehmende Verhandlungsposition mehr, sondern ein unrealistischer Maximalismus, der Verhandlungen unmöglich macht – nicht nur mit Kremlchef Putin, sondern auch mit den westlichen Alliierten.
Scholz und Macron werden Selenskyj deshalb auf den Boden der Realität zurückholen müssen. Sie sollten ihm klar machen, dass der Schwanz nicht mit dem Hund wedeln kann – und einen neuen Rahmen setzen.
Ein möglicher Weg wäre, Waffenlieferungen an realistische Kriegsziele zu binden, und Sanktionen an seriöse Verhandlungen. Einen Blankoscheck für einen ewigen Krieg darf es nicht geben, zumindest ein Waffenstillstand muß her.
Außerdem sollten Scholz und Macron ihrem Freund klarmachen, dass ein Land nur dann der EU beitreten kann, wenn es im Frieden lebt und dauerhafte Grenzen hat. Der Kandidatenstatus, den Selenskyj fordert, will dazu nicht recht passen…
Siehe auch “Russischer Revisionismus: Wie weit geht Wladimir der “Große”?
Thomas Damrau
16. Juni 2022 @ 11:38
Selenskyj ist leider ein weiteres Beispiel dafür, dass Politiker aus der Retorte schnell überfordert sind: aus dem politischen Nichts erschaffen vom Oligarchen Kolomojskyj – mit der einzigen Qualifikation, dass er schon einmal einen volksnahen Präsidenten im Fernsehen gespielt hatte. Ins Amt getragen durch die Abneigung des ukrainischen Volkes gegen die Konkurrenten Tymoschenko und Poroschenko.
Politisches Programm? Fehlanzeige. Die eigene Partei nach der Fernsehserie zu benennen, in der er den Präsidenten gespielt hatte, war Programm genug.
Entsprechend auch das innenpolitische Handeln: ein bisschen Korruptionsbekämpfung (mäßig erfolgreich), Zurückstutzen der Arbeitnehmerrechte (aggressiv begonnen, nach Protesten u.a. unter anderem der Vereinten Nationen entschärft), Liberalisierung der Wirtschaft (zur Freude des IWF). Kurz: Was man von einer Regierung erwartet, die ihr Land für internationale Investoren aufhübschen möchte. Unklar, ob die Bevölkerung seine Innenpolitik bei den nächsten Wahlen honoriert hätte.
Und die Außenpolitik? Friedensgespräche mit Russland verliefen schnell im Sand. Dafür trieb Selenskyj das von Poroschenko begonnene Verbot russischer Medien in Ukraine weiter voran. Und um auch keinen Zweifel an seiner harten Haltung gegenüber Russland aufkommen zu lassen, verkündete er Ende August 2021 die militärische Rückeroberung der Krim als Ziel ( https://www.zdf.de/nachrichten/politik/ukraine-krim-selenskyj-100.html ). Damals stellten sich diverse Fragen:
1) Versucht hier ein mäßig erfolgreicher Politiker durch außenpolitischen Aktionismus Punkte zu machen.
2) Fühlt sich Selenskyj auf Grund der seit 2014 von USA geleisteten Aufrüstung und Ausbildung wirklich in der Lage, über eine militärische Auseinandersetzung mit Russland nachzudenken?
3) Hat Selenskyj Grund, mit dem Einschreiten der USA / NATO im Falle eines Falles zu rechnen?
4) Leidet Selenskyj unter Realitätsverlust.
Mit dem Kriegsbeginn 2022 hat Selenskyj seine Rolle als großer Kommunikator gefunden: weg mit dem Anzug – rein ins Outfit eines Guerillas-Kämpfers, Durchhalteparolen nach Innen, moralische Vorhaltungen an die westliche Welt. Das macht sich gut auf dem Bildschirm, löst aber Selenskyjs Kernproblem nicht: Wie beendet er unter möglichst geringen menschlichen und territorialen Verlusten für die Ukraine diesen Krieg.
Und da haben wir von Selenskyj schon alles Mögliche gehört: von “Neutralität + Gebietsverzicht” bis “zurück zu 2013”, von “jederzeit zu direktem Gespräch mit Putin bereit” bis “den Russen ist eh nicht zu trauen” in wildem Wechsel.
Selenskyj scheint mir nicht der entscheidungsstarke Anführer zu sein, zu dem ihn die Medien stilisieren, sondern eher ein Spielball seiner ukrainischen und ausländischen Berater.
european
16. Juni 2022 @ 11:07
Ich hätte mir gewünscht, sie wären nach Moskau gereist, um seriös2 Friedensverhandlungen zu beginnen, die auch europäische Interessen betreffen.
Noch mehr Waffenlieferungen verlängern einen bereits verlorenen Krieg und kosten noch mehr Menschenleben.
Seriöse Verhandlungen hätten diesen Krieg übrigens bis kurz zuvor verhindern können. Da wir aber Biden das letzte Wort überlassen haben, wurde diese Tür viel zu früh zugeschmettert.
Jetzt rudert die Nato zurück und je mehr wir uns den Midterms nähern, umso mehr Abstand werden auch die USA nehmen.
Kleopatra
16. Juni 2022 @ 09:36
Russland ist ein Schurkenstaat mit einem Schurkenmilitär. Mit einem solchen Staat ist keine friedliche Koexistenz möglich, nur eine zeitweilige Aussetzung der Feindseligkeiten. Und während eines Krieges sagt kein vernünftiger Anführer einer kriegführenden Partei, wie weit er im Maximalfall für einen Kompromiss gehen würde. Im übrigen können wir uns nicht auf den Standpunkt stellen, dass die Ukraine erst nach Kriegsende EU-Mitglied werden darf, sonst würden wir Russland die Entscheidung darüber überlassen.
Holly01
16. Juni 2022 @ 10:53
@ Kleopatra:
Mag sein.
Aber Russland ist dort wo es jetzt ist und es verschwindet nicht.
Völker und die Länder die sie bilden sind quasi “ewig” (Ausnahmen bestätigen die Regel).
Deutschland war unter der 88 mit seinen Nazis ziemlich sicher kein guter Nachbar.
Die Nazis sind nicht mehr offensichtlich in der Regierung.
Die wirtschaftlichen Kräfte die die Nazis ermöglicht haben sind aber ebenso hier wie das Volk und das Land.
Wir sind inhaltlich nicht auf völkische Betrachtungen vorbereitet. Das ist auch ein dummes Konzept. Aber Wirtschaftsräume kennen wir und das ist ein nützliches Hilfsmittel.
Darum drehe ich Ihre Argumentation um:
Sich auf die Sicht der Ukraine einzulassen würde der Ukraine die Entscheidung überlassen. Das wäre krachend dumm.
Die Ukraine hat KEINE Freunde. Die Ukraine ist völkisch ein Mischwesen. Die Ukraine war wirtschaftlich nicht lebensfähig und ist es jetzt noch viel weniger.
Polen will seine Gebiete zurück und ist da bereits sehr sehr weit vorgedrungen.
Die USA wollen Visegrad, den (von ihnen kontrollierten) Riegel zwischen Asien und Europa.
Die EU will ….. keine Ahnung die EU droht mit Selbstmord.
Die Türkei will ihre Position an der südlichen Küste vom schwarzen Meer konsolidieren (die kennen eben ihre Geschichte).
Alle sehen die Ukraine im besten Fall als Verhandlungsobjekt.
Da sollen wir unsere Positionen von der Ukraine abhängig machen?
Die Ukraine ist eine Episode der Geschichte und bereits beerdigt.
Zu Russland haben wir so unterschiedliche Meinungen das ein Austausch kaum möglich ist.
Ich nehme Ihre Position als Warnung zur Kenntnis, gebe aber zu bedenken das die Beerdigung der Ukraine nur mit Russland statt finden kann.
Tritt nie einen Hintern, wenn du da noch rein musst …..
Kleopatra
16. Juni 2022 @ 14:41
Ihre Argumentation it Begriffen wie “völkisch” kann ich nur befremdlich finden. Sie wissen schon, in wessen Gesellschaft Sie sich begeben? Jedenfalls aber dient Ihr Beitrag als Beleg, dass das gegenwärtige Russland und seine Sympathisanten tatsächlich (und nicht nur im Rahmen geschmackloser Witze) wie eine Reinkarnation Hitlers und seiner Nazis wirken.
ebo
16. Juni 2022 @ 14:46
Ich bitte beide Kontrahenten, sich im Ton zu mäßigen. Sonst kann ich die Kommentare leider nicht mehr freischalten.
Holly01
16. Juni 2022 @ 07:59
Ich war erstaunt als ich gelesen habe, das ein Raketenwerfer ein “Software” Update benötigt, um zu funktionieren, wie man sich das wünscht.
In der Presse stand “deutsche Hersteller”.
” https://www.businessinsider.de/politik/deutschland/ukraine-krieg-lambrecht-bietet-bei-nato-treffen-3-mars-raketenwerfer-an-b/ ”
Herstellerseite sagt, das ist ein europäisches Projekt, wobei jedes Land eine andere Bezeichnung hat.
” https://www.kmweg.de/systeme-produkte/kettenfahrzeuge/artillerie/mars-ii-mlrs-e/#:~:text=In%20Kooperation%20mit%20verschiedenen%20europ%C3%A4ischen,auf%20Lance%20Roquette%20Unitaire%20(LRU) ”
Die Grundgeräte sind also aus den 1990ern und werden aufgemotzt.
Reichweite so etwa 40km mit Minenstreumunition oder eben Einzelzielwirkung.
Das Softwareupdate ist das hier:
” https://www.lockheedmartin.com/en-us/products/guided-mlrs-unitary-rocket.html ”
Die gewünschte Munition hat dann etwa 140 km Reichweite.
Nur falls jemand denkt, die europäischen Systeme funktionieren ohne US Hilfe.
Ja manche tun das wohl auch.
Das scheint mir aber eher die Ausnahme zu sein.
Ohne US Hilfe kann die EU/NATO nicht einmal einen Sandkasten verteidigen.
Wenn ich mir die derzeitigen “Strategen” in der Politik so ansehe, dann habe ich erhebliche Zweifel, das die dafür sorgen, das es tatsächlich eine nationale oder EU Fähigkeit zur Verteidigung gibt.
Ganz nebenbei ist die EU so auf den sicheren Seeweg über den Atlantik angewiesen.
Aber was mache ich mir Gedanken. Die US Armee verbraucht pro Tag etwa so viel Energie wie die Niederlande (Friedenszeiten, also keine besonderen Einsätze).
So lange die Leos nicht auf PV Panel umgerüstet sind, kann man bei der jetzigen Situation kaum von einer Fähigkeit zur Verteidigung ausgehen.
Warum spricht eigentlich niemand mit der EU, außer wenn es um das Bezahlen geht?
Die haben inhaltlich doch so tolle Ideen.
Was machen deutsche Militärs eigentlich beruflich? Gibt es da keine Bedarfserhebungen? Haben die keine Kontrollen zur Verfügbarkeit oder zu Abhängigkeiten?
Was ist denn sonst noch überall verbaut, was dazu führt, das ganze Waffensysteme nur sehr eingeschränkt einsatzfähig wären, wenn man sie hätte?
Bei den Fliegern weiß ich ziemlich sicher das es in der EU kein Land gibt das einen konkurrenzfähigen Antrieb herstellen könnte. Kein einziger kann das.
Software? Die Chips?
Ich glaube das will niemand wirklich hören. Aber stellen Sie sich das Schlimmste vor, dann legen Sie eine große Schaufel Ironie dazu und dann kommen Sie in die Nähe der Realität.
Die Bundeswehr hat keine einzige Stelle wo Anwendungssoftware (ganz zu schweigen von der Software für Waffensysteme) auch nur geprüft werden kann.
Von selbst machen gibt es nicht einmal einen feuchten Traum.
SO abhängig sind wir und die Baerbock pinkelt kräftig gegen den Wind.