Widerstand gegen EU-Vorgaben, Krise in Nordirland – und Löschbefehl aus Brüssel
Die Watchlist EUropa vom 29. April 2021 –
Es war ein Auftritt mit Symbolwert: Zusammen mit seinen Kollegen aus Frankreich, Italien und Spanien hat Bundesfinanzminister Olaf Scholz den Startschuss für das europäische Wiederaufbauprogramm gegeben. Scholz reichte den deutschen Ausgabenplan für den Corona-Hilfsfonds in Brüssel ein, andere EU-Länder wollen in den nächsten Tagen folgen. Doch kaum jemand will sich an die EU-Vorgaben halten, deren Umsetzung in den nächsten Wochen geprüft wird.
Die Bundesregierung will 90 Prozent der Gelder für den Klimaschutz und die Digitalisierung verwenden. Damit wird die EU-Vorgabe von 37 Prozent fürs Klima und 20 für Digitales erfüllt.
Scholz sprach von einem “wirklich europäischer Plan”. Es gehe auch um internationale Projekte etwa bei Wasserstoffenergie, Mikroelektronik und Datenverarbeitung, an denen sich andere EU-Länder beteiligen könnten.
Allerdings fehlen in der rund 1100 Seiten dicken Vorlage aus Berlin viele Reformen, die die EU-Kommission im Zuge des „Europäischen Semesters“ empfohlen hatte.
Von einem Ende des Ehegattensplittings ist ebenso wenig die Rede wie von einer Erhöhung des Rentenalters. Diese neoliberalen Reformen hat Brüssel wiederholt in Berlin angemahnt.
Dass sie nun fehlen, ist pikant. Schließlich hatte die Bundesregierung durchgesetzt, dass die Finanzhilfen aus dem Corona-Aufbaufonds an das „Europäische Semester“ gebunden werden.
Diese Vorgabe hält sie nun selbst nicht ein.
Kritik am deutschen Reformplan
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Scholz habe seine Hausaufgaben nicht gemacht, kritisierte die grüne Bundestagsabgeordnete Franziska Brantner. Er habe längst geplante Projekte aus dem deutschen Konjunkturpaket nach Brüssel gemeldet, „statt einen zusätzlichen Wachstumsimpuls für echten Klimaschutz zu geben“.
Scholz wies das zurück. Beim Klimaschutz habe er das „Beef“ geliefert, zudem unterstütze sein Plan die Wettbewerbsfähigkeit.
Auch der französische Finanzminister Bruno Le Maire verwahrte sich gegen allzu enge Vorgaben aus Brüssel. „Wir brauchen keine Empfehlungen, um uns der Notwendigkeit von Reformen bewußt zu sein“, erklärte er.
Es geht um “Meilensteine”
Jetzt gehe es vor allem darum, aufs Tempo zu drücken und die Hilfsgelder schnell auszuzahlen. Deutschland soll 25 Milliarden Euro erhalten, Frankreich stehen sogar 40 Milliarden zu.
Zunächst steht aber die Prüfung der nationalen Pläne in Brüssel an. Die EU-Kommission hat angekündigt, die Finanzhilfen nur dann auszuzahlen, wenn bestimmte „Meilensteine“ erreicht werden.
Allerdings kann sie es sich kaum leisten, Italien oder anderen EU-Ländern die Gelder zu verweigern. Dies würde eine neue schwere Krise auslösen und die wirtschaftliche Erholung gefährden…
Siehe auch “Berlin und Paris feiern Wiederaufbau – doch Impulse kommen von woanders”
Watchlist
Wie geht es weiter in Nordirland? Diese Frage stellt sich nach dem Rücktritt von Regierungschefin Arlene Foster. Die Politikerin sah sich mit einem parteiinternen Aufstand wegen der Folgen des Brexits für Nordirland konfrontiert. Diese Folgen sind größer als von London und Brüssel versprochen; seit einiger Zeit gibt es auch wieder Unruhen. Die EU fordert nun auch noch eine strikte Einhaltung des Austrittsvertrags, der die Probleme mit verursacht hat… – Siehe auch “Das Brexit-Dilemma”
Hotlist
- Über das neue EU-Gesetz gegen Terrorinhalte im Internet schreibt “Netzpolitik”: Ein EU-Gesetz, das terroristische Inhalte aus dem Netz entfernen soll, ist nun beschlossen und tritt in einem Jahr in Kraft. Die für Donnerstag geplante Abstimmung entfällt aufgrund eines Versehens. Zivilgesellschaftliche Organisationen warnen vor einem Präzedenzfall in der Regulierung von Internetinhalten. – Die „ultraschnellen grenzüberschreitenden Löschanordnungen ohne Richtervorbehalt“ seien eine Bedrohung der Meinungs- und Pressefreiheit im Netz, warnt der Pirat P. Breyer.
- Im Skandal um mögliche illegale Push-backs durch die EU-Grenzschutzbehörde Frontex droht das EU-Parlament der Agentur mit Budgetkürzungen, berichtet die “Zeit”. So stimmte eine breite Mehrheit der Abgeordneten dafür, die Entlastung für das Haushaltsjahr 2019 vorerst nicht zu erteilen. Der Grund sind massive Vorwürfe zu Menschenrechtsverletzungen und weiterem Fehlverhalten. – Die Drohung kommt zu spät: Gerade erst hat die EU-Kommissoon das Mandat für Frontex ausgeweitet – die Agentur soll sich jetzt auch um die “freiwillige” Rückkehr von Flüchtlingen kümmern…
- Düstere Prognose für Deutschland: Der Höhepunkt der dritten Corona-Welle ist in Deutschland offenbar noch nicht überschritten. Hierzulande könnte die Todesrate angesichts der Corona-Pandemie in den kommenden eineinhalb Wochen weiter steigen. Das geht aus Daten hervor, welche die EU-Gesundheitsbehörde ECDC zusammengetragen hat, wie der “Tagesspiegel” berichtet. – Schon in der zweiten Welle hatte die Todesrate in Deutschland höher gelegen als in anderen EU-Ländern. Offenbar verfängt die Strategie von Kanzlerin Merkel nicht, trotz Dauer-Lockdown…
Thomas Fiedler
29. April 2021 @ 09:35
Neo-liberale Impulse aus Brüssel sollten in D, F und auch AU stets mit spitzen Fingern angefasst werden. Seit mehr als 20 Jahren erfindet die Kommission, angetrieben von den Markt-Liberalen aus den nordischen und osteuropäischen Ländern (GB gottseidank jetzt draußen) neue Formeln, um jegliche Art rheinisch-kapitalistischer Daseinsvorsorge kaltzumachen. Wären die EU-Länder diesem ständigen Drängeln nach Deregulierung gefolgt, wären heute die Gesundheitssysteme, Wasserversorgung, Abfallwirtschaft, ÖPNV, Netzinfrastruktur, ja sogar Schulen, Unis und Kitas jeglicher staatlicher Eingriffe, Kontrolle und gesellschaftlicher Gestaltung entzogen. Mich fröstelt bei dem Gedanken, in einer Maggie-Thatcher-EU leben zu müssen. Das ist die eine Seite der Medaille. Die andere ist – und darauf zielt Ihr Artikel ja in erster Linie -, dass das akute Vorhaben in D u. F wiederveinmal zeigt, wie schwach die EU in Wirklichkeit ist. Der größte Friedhof in Brüssel ist der der früh gestorbenen Projekte und der gutgemeinten Ideen.
ebo
29. April 2021 @ 10:09
Wir erleben die schleichende Entmachtung des EU-Parlaments. Erst bei Corona, dann bei Impfstoffen, nun auch beim Recovery Fund. Alles passiert hinter dem Rücken der Abgeordneten – doch die wehren sich kaum. Wird es beim Impf-Zertifikat anders sein?