Kindergeld: Berlin eifert London nach
Die Empörung war groß, als London 2016 die Begrenzung von Sozialleistungen für zugezogene EU-Ausländer forderte. Das sei nicht mit dem EU-Recht und dem Binnenmarkt vereinbar, hieß es. Nun fordert Berlin dasselbe – beim Kindergeld.
Das Kindergeld werde mißbraucht, um arme Osteuropäer nach Deutschland zu locken und die Einwanderung in das deutsche Sozialsystem zu fördern, klagen Kommunalpolitiker quer durch alle Parteien.
Ähnliche Klagen gibt es seit Jahren. Doch so richtig hoffähig wurden sie erst 2016, kurz vor dem britischen EU-Votum. Damals gestand Kanzlerin Merkel den Briten eine Art Notfall-Klausel zu, die sie auch für Deutschland nutzen wollte.
Doch dummerweise reichte dieses kleine Zugeständnis nicht aus, um die Briten in der EU zu halten. Das Brexit-Referendum ging schief, die für Ex-Premier Cameron maßgeschneiderte Klausel trat nie in Kraft.
Deshalb ließ auch Merkel das brisante Thema fallen. Einen deutschen Alleingang, wie ihn Ex-Finanzminister Schäuble anvisierte, wollte sie nicht wagen. Das hat sich nun, zwei Jahre später, offenbar geändert.
Nun will Berlin plötzlich das EU-Recht ändern, damit das deutsche Kindergeld-Problem gelöst werden kann. Was man den Briten jahrelang verwehrte, wollen sich die Deutschen mal eben selbst genehmigen.
Doch sie haben die Rechnung ohne die EU-Kommission gemacht, die (noch) am EU-Recht festhält, welches eine Diskriminierung nach Herkunft ausschließt. Und sie verkennen wohl auch die Dimension der Problems.
Denn es geht ja nicht nur ums Kindergeld. Es geht auch um Krippenplätze, um Sozialwohnungen und um Hilfsleistungen, die – begünstigt durch den Binnenmarkt und die Freizügigkeit – zunehmend von Ausländern genutzt werden.
In Deutschland vollzieht sich gerade eine ähnliche Entwicklung wie früher in Großbritannien – das Land wird zum Opfer seines eigenen Erfolgs, und die früher hoch gelobten EU-Regeln werden zum Problem…
Siehe auch “Berlin macht britische EU-Politik” und “Gefangen im Binnenmarkt”
Peter Nemschak
10. August 2018 @ 12:58
@ebo Ob der freie Kapitalverkehr oder vielmehr eine staatliche Fehlregulierung (massive Fehlanreize durch Ausschaltung des Prinzips Haftung und Sozialisierung privater Finanzrisiken) 2008 verursacht hat, ist nach wie vor Gegenstand der Debatte. Der freie Kapitalverkehr hat, das ist unbestritten, jedenfalls als Transmissionsriemen der Krise gedient. Den freien Personenverkehr innerhalb der EU einzuschränken würde die Auswanderung aus dem wirtschaftlich zurückgeblieben Osten Europas nicht stoppen. Es ist nun einmal so, dass die mobilsten und tüchtigsten Menschen dorthin wandern, wo ihre Lebenschancen am größten sind und wo sie wirtschaftlich den größten Beitrag leisten können. Ein Protektionismus, welcher die Unproduktiven abschirmt, kann nicht die Lösung sein. Verstärkte Bildung ist Voraussetzung von sozialer Inklusion. Daran führt kein Weg vorbei. Es liegt an den Mitgliedsstaaten der EU entsprechende Voraussetzungen zu schaffen, um produktive Menschen anzuziehen und ihnen Entwicklungsmöglichkeiten zu bieten. Korrupte politische Systeme sind dabei wenig attraktiv. Irgendwann werden sich die Bürger im Osten gegen ihre korrupten Eliten wehren. Selbst Politiker wie Orban wissen, dass ein Austritt ihres Landes aus der EU ihnen wirtschaftlich mehr schaden als nützen würde. Die EU hat nach wie vor große wirtschaftliche Anziehungskraft in Europa.
Baer
10. August 2018 @ 08:24
Wer ein Problem erkennt und nicht handelt,macht sich strafbar,zumal es sich um Missbrauch handelt.
Die EU und speziell Deutschland ist ein bürokratischer Sauhaufen aus unmotivierten und inkompetenten Beamten,die noch dazu hochbezahlt sind.
Leider begreifen nur sehr wenige das gesamte Ausmaß der Merkelschen Politik.
Schäden vom Volk abwenden und den Wohlstand mehren hat die geschworen.
Das Gegenteil hat sie getan,also ist sie meineidig geworden.Wo sind die Ankläger?
Fehlanzeige
Peter Nemschak
10. August 2018 @ 08:17
Österreich war wieder einmal Vorreiter für ein Thema, das angesichts der sehr unterschiedlichen Wirtschaftskraft in den Mitgliedsländern diskussionswürdig ist. Bedauerlich, dass sich manche ideologisch sofort eingraben, wenn Sozialthemen zu diskutieren sind.
Claus
10. August 2018 @ 08:15
Der Tagesspielgel von 21.03.2018: „Die Bundesagentur für Arbeit (BA) hat im Jahr 2017 rund 343 Millionen Euro Kindergeld an Konten im Ausland gezahlt. Damit haben sich die Kindergeldzahlungen ins Ausland seit 2010 (35,8 Millionen Euro) fast verzehnfacht. Das berichten die Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschland (RND / Mittwoch) unter Berufung auf Zahlen der BA aus einer Kleinen Anfrage der AfD-Bundestagsfraktion.“
Interessante Zahlen. Und gibt es da einen Zusammenhang zwischen einer Anfrage, dem plötzlichem Handlungsbedarf, einem zum nicht unwesentlichen Teil missbräuchlichen Bezug von Sozialleistungen Einhalt zu gebieten und den anstehenden Wahlen in Bayern und Hessen? Wer weiß.
EU-Niederlassungsfreiheit: Gut gemeint, naiv gemacht.
Kleopatra
10. August 2018 @ 07:43
Wenn die Höhe des Kindergeldes sich daran orientiert, wo das Kind lebt, ist das solange keine Diskriminierung aufgrund der Herkunft (konkret Staatsangehörigkeit), wie es wirklich nur von dem Wohnort abhängt. Im Übrigen führt es wirklich zu merkwürdigen Effekten, wenn in manchen Staaten ein Kindergeld gezahlt wird, dass in anderen Staaten einem Durchschnittlohn nahekommt. In Österreich arbeiten etwa viele Slowakinnen als Altenpflegerinnen (formal selbständig), und ein Argument, das gegen eine Senkung des Kindergeldes für Kinder in der Slowakei angeführt wird, läuft darauf hinaus, dass diese Frauen mit dem Kindergeld als Verdienstbestandteil kalkuliert hätten.
Ich meine mich zu erinnern, dass die Idee einer Flexibilität bei Sozialleistungen keineswegs einhellig als böse britische Idee abgelehnt wurde, sondern schon im Frühjahr 2016 viele andere EU-Staaten diese Idee interessiert ventiliert haben.
Peter Nemschak
10. August 2018 @ 11:11
Die slowakischen Altenpflegerinnen gehören besser bezahlt, aber systematisch nicht über das Kindergeld. Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob für die Daseinsberechtigung der EU ein transnationaler Sozialausgleich erforderlich ist oder besser Anreize gewährt werden, um die wirtschaftliche Konvergenz innerhalb der EU, die nach der Osterweiterung anfänglich überschätzt wurde, zu beschleunigen. Durch Transfers wird der gemeinsame Kuchen nicht größer und der Anreiz geschwächt ihn zu vergrößern. Mit höheren Sozialausgaben kann man sich vom Rechtspopulismus nicht freikaufen wie das Beispiel Schweden zeigt. Der ausgebaute Wohlfahrtsstaat konnte nicht verhindern, dass auch Schweden einen virulenten Rechtspopulismus hat. Identität geht vor Ökonomie, wie der BREXIT aber auch Untersuchungen in anderen EU-Ländern gezeigt haben.
ebo
10. August 2018 @ 11:40
Das Problem liegt m.E. im Binnenmarkt. Die vier Grundfreiheiten lassen sich in Zeiten der grenzenlosen Globalisierung und der globalisierten Migration nicht mehr ohne weiteres halten. Der freie Kapitalverkehr hat die kapitalistische Welt 2008 fast in den Abgrund geführt, der freie Personenverkehr hat en Brexit ausgelöst – und nun wird er zum Problem in Deutschland.
Solveig Weise
13. August 2018 @ 11:39
@ebo: Ich kann hier nur unumwunden zustimmen. Die extremen Unterschiede im Bereich der Sozialleistungen relativ zu den entsprechenden Durchschnittslöhnen sind ein klarer Pull Faktor für Migrationsbewegungen innerhalb der EU. Ich halte speziell diese Diskussion allerdings für Heuchelei pur. Menschen, die in Deutschland arbeiten haben Anspruch auf Kindergeld. Eine Indexierung kann durchaus angedacht werden allerdings ist zu bedenken, dass die aktuelle Praxis auch klare Vorteile für den deutschen Steuerzahler bringt. Kinder, die nicht hier leben benötigen auch keinen Kindergarten- oder Grippenplatz. Ebensowenig benötigen Sie Plätze an Schulen oder verursachen sie Kosten für das Gesundheitssystem. Problematisch hingegen sind die vielen Scheinarbeitsverträge für Menschen vom Balkan über die der Bezug von Sozialleistungen missbräuchlich herbeigeführt wird. Dies ist in diesem konkreten Fall aber nicht die Schuld der EU sondern deutscher Ausländerbehörden, die nicht in der Lage oder willens sind diese Personen nach drei Monaten vergeblicher Arbeitssuche wieder nach Hause zu schicken.
Wir leben in einem Land in dem eine solche Diskussion künstlich hochgezogen wird (einige hundert Millionen Einsparpotential) aber die gleichen Politdarsteller die Kosten der mittlerweile fast einer Millionen abgelehnten Asylbewerber (Milliardenkosten), die nach wie vor hier leben in keinerlei Hinsicht thematisieren.