Zwischen Fragmentierung und Politisierung
Die Europawahl sollte einen großen Sprung nach vorn für die Demokratie bringen – und entpuppte sich als großer Schwindel. Wie konnte es dazu kommen? – Teil 9 und Schluß der Sommer-Serie: Zwischen Fragmentierung und Politisierung.
Die Europawahl 2019 hat sich als großer Schwindel entpuppt, das Europaparlament ist gedemütigt und geschwächt. Na und? Mal gewinnt das Parlament, mal der Rat – und beide sind demokratisch legitimiert. Hauptsache, die EU ist wieder handlungsfähig!
So argumentieren viele in Brüssel und in Berlin. Ein wochenlanges Gezerre um die Topjobs habe man sich angesichts von Trump, Putin und Erdogan nicht leisten können, auch der Brexit und der Handelskrieg mit China ließen keine Zeit für europäische Nabelschau.
Wer so argumentiert, ignoriert jedoch zwei große Schwachstellen der EU: das eine ist der Mangel an (demokratischer) Legitimation – und das andere ist das Versagen des Rates, also der 28 Mitgliedstaaten, bei der Lösung der drängendsten Probleme.
Die Europaabgeordneten haben ja vor allem deshalb so dick aufgetragen, weil der Rat sich als unfähig erwiesen hat, die EU zu reformieren, den Euro zu stärken, die Flüchtlingspolitik fair zu gestalten usw. usf. Auch die EU-Kommission hat die Krise nur gelindert, nicht gelöst.
Da sich das deutsch-französische „Paar“ auseinander gelebt hat, müsse nun das Europaparlament als „Motor“ dienen, glauben viele Europaabgeordnete. Sie sehen sich in einem Machtkampf mit dem Rat und versuchen, die Kommission auf ihre Seite zu ziehen.
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Doch mit der neuen Kommissionschefin Ursula von der Leyen wird das schwierig. Sie fühlt sich vor allem den Mitgliedstaaten verpflichtet, wie ihre Tournee durch die Hauptstädte gezeigt hat. Bei Emmanuel Macron, Viktor Orban und Angela Merkel steht sie in der Schuld.
Zudem gibt es im neuen Europaparlament keine stabile Mehrheit mehr. Die alte Mehrheitsfraktion EVP ist geschwächt, Sozialdemokraten und Liberale müssen sich neu aufstellen, die Grünen lassen eine klare Linie vermissen. Die Fragmentierung schwächt das Parlament.
Auch sonst sieht es nicht gut aus um die Demokratie. In mehreren Mitgliedstaaten – nicht nur in Ungarn oder Polen, sondern auch in UK, teilweise auch in Spanien – liegen die Regierungen über Kreuz mit ihren Untertanen, werden Parlamente ausgehebelt und demokratische Rechte mißachtet.
Gleichzeitig verlagert die EU immer mehr politische Entscheidungen auf eine scheinbar technische Ebene. Von der Budgetpolitik, dem „Königsrecht“ des Parlaments, ist nicht mehr viel übrig. Auch die Handelspolitik dringt immer tiefer in einstige Kernbereiche der Demokratie ein.
Der Streit um die Spitzenkandidaten geht am Kern vorbei
All das wurde bei der Europawahl nicht einmal thematisiert. Die „Postdemokratie“, die in der EU spätestens mit der Finanz- und Eurokrise ab 2008 einzog und schon 2010 zu einer weitgehenden Entmachtung des Europaparlaments geführt hat, wurde nicht infrage gestellt.
Genau deshalb hat der Machtkampf zwischen Parlament und Rat etwas Steriles. Es ist ein inter-institutioneller Konflikt, doch er geht am Kern vorbei. Dies gilt auch für den Streit um die Spitzenkandidaten. Dabei geht es vor allem um Verfahren, jedoch nicht um die Substanz.
Dennoch bleibt das Europaparlament die beste Hoffnung für die europäische Demokratie. Vielleicht lernt es ja aus seiner Niederlage. Und vielleicht führt der Verlust stabiler Mehrheiten zu einer Politisierung. Bei der Wahl der von der Leyen-Kommission im Oktober kommt die nächste Machtprobe…
FAZIT: Das Europaparlament hat im Streit mit dem Rat verloren, doch der Machtkampf um die Demokratie geht weiter. Die neu gewählten Abgeordneten sind gefordert, Kernbestände parlamentarischer Kontrolle zurückzuerobern – der Streit um die Spitzenkandidaten ist dabei nur ein Neben-Kriegsschauplatz.
Hiermit endet unsere Sommerserie. Teil 1 steht hier. Siehe auch „Was das Europaparlament jetzt tun sollte“
Peter Nemschak
17. August 2019 @ 10:04
@Kleopatra Der Unterschied zwischen dem EU-Parlament und den nationalen Regierungen besteht darin, dass sich Ersteres im humanitären Schwadronieren ergehen kann, letztere aber Verantwortung gegenüber ihren Wählern haben und Gefahr laufen abgewählt zu werden, wenn sie nicht handeln. Gäbe es klar zahlenmäßig definierte definierte jährliche Grenzen für Menschen, die Asyl suchen, lässt sich auch die unsanfte Abwehr Illegaler politisch leichter verkaufen. Die derzeitige Praxis ist unseriös.
Holly01
17. August 2019 @ 09:00
Ohne eine umfassende Klärung der sozialen Mindestversorgung der EU-Bürger wird es keine Migration geben, die die Masse der Menschen akzeptiert.
Der Widerstand baut sich bis zum Bürgerkrieg auf.
Wenn die 0,1% also Migranten haben wollen, müssen die mehr tun als Politiker zu bestechen, damit die gefügig sind.
Die 80% die vor “historischen” Veränderungen innerhalb kürzester Zeit stehen, wollen wissen was auf sie zu kommt.
DIESE zentrale Frage MUSS die Politik beantworten, bevor irgend eine Form von fundamentalen Veränderungen zugelassen wird.
Es sollte sich auch niemand täuschen. Auch Deutschland ist inhaltlich ganz knapp vor der grenze, wo die ersten “selbst ernannten Retter des deutschen Abendlandes” zur anarchischen Gewalt greifen.
Weder die Einkommenschere noch die (Dauer-) Migration sind zu halten.
vlg
Peter Nemschak
17. August 2019 @ 10:59
Was heißt „umfassende Klärung der sozialen Mindestversorgung der EU-Bürger“ ? Die jährliche Obergrenze für Migration (Asyl inklusive) wird durch die Absorptionsfähigkeit des Wohlfahrtsstaates (Eingliederung der Migranten am Arbeitsmarkt in die Masse der Steuerzahler) gezogen.
Peter Nemschak
16. August 2019 @ 19:09
@ebo Der Vorschlag des Parlaments bezieht sich auf die Verteilung von Asylsuchenden und unterstellt implizit, dass alle, die nach den derzeitigen Kriterien sich qualifizieren, nach Prüfung in die EU aufgenommen werden können. Eine jährliche Obergrenze ist nicht vorgesehen, wird aber zum Schutz unserer sozialstaatlichen Standards erforderlich sein. Ohne Obergrenze, die jedes Land für sich autonom definieren kann, werden sich die Ängste der ansässigen Bevölkerung nicht beruhigen lassen, und der Zulauf zu den Rechten wird anhalten.
Peter Nemschak
16. August 2019 @ 12:25
Wie sieht denn der fertige Entwurf der Abgeordneten aus? Dass man mit der derzeit geltenden Flüchtlingskonvention aus 1951 das Problem nicht lösen kann und restriktivere Maßnahmen braucht, um den Sozialstaat nicht zu gefährden, sollte den Abgeordneten bewusst sein. Die Mitglieder des Rats und des Ministerrats auf der Ebene der Fachminister sind in erster Linie ihren nationalen Wählern verantwortlich. Alles andere ist Wunschdenken.
ebo
16. August 2019 @ 13:33
Hier der Vorschlag des Parlaments: https://www.europarl.europa.eu/news/en/headlines/world/20180615STO05927/eu-asylum-rules-reform-of-the-dublin-system
Kleopatra
16. August 2019 @ 17:40
Der Vorschlag hat zwei Schwachstellen:
1) sieht er wieder obigatorische Quoten vor, also genau das, was Deutschland im Herbst 2015 im Rat durchzudrücken versucht hat und dadurch die Union benahe gesprengt hat. Der seinerzeitige Mehrheitbeschluss wurde ja in Teilen der deutschen Presse bejubelt, aber von den meisten Staaten,die ihn nominell beschlossen haben, sabotiert. Es wird auch schon wieder von den EU-Mitteln gefaselt, die man Widerstrebenden kürzen sollte/wollte. Womit demonstriert wird, dass das Ganze eine deutsche Idee ist: wir haben immer die Vorstellung,dass die anderen von uns finanziell abhängig sind und wir sie dadurch nach unserer Pfeife tanzen lassen können.
2) Jede Vorstellung von Quoten berücksichtigt nicht, dass die Migranten sehr konkrete Vorstellungen haben, wo sie hinwollen. Wenn 80% nach Deutschland oder Großbritannien wollen, wird jeder Verteilungsmechanismus eine Farce.
ebo
16. August 2019 @ 17:50
Stimmt – aber ich habe ja auch nicht behauptet, dass der Vorschlag perfekt oder praktikabel ist. Er zeigt aber, dass das Europaparlament zu Kompromissen und zum Interessen-Ausgleich fähig ist, auch bei schwierigen Themen wie der Dublin-Reform. Der Rat hingegen kommt nicht voran, er versucht es nicht einmal mehr.
Kleopatra
17. August 2019 @ 08:53
Das Parlament hat m.E. Schwierigkeiten, sehr unterschiedliche Interessen der Mitgliedstaaten zu berücksichtigen. So ist ein Entwurf herausgekommen, der die Bruchlinien mit wohlklingendem humanitärem Zuckerguss zukleistert. Was ist eine Einigung wert, die nicht praktikabel ist? Und wenn, wie mir scheint, ein Hauptproblem in den stark nach Ländern divergierenden Interessen besteht – ist dann nicht der von vornherein nach Ländern organisierte Rat besser geeignet als das Parlament, in dem nun einmal die Ideologie mächtig ist, dass die Interessen der Einzelstaaten per se bse sind?
Der Rat scheint mir keine Politik zu betreiben, aber es wird trotzdem gearbeitet. Das Thema ist aber eines, bei dem ein Großteil der Politik unter der Sichtbarkeitsgrenze stattfindet, weil sie unschön aussieht. Die gegenwärtige ruhige Situation innerhalb des Schengen-Gebietes beruht nun einmal u.a. darauf, dass pakistanische Migranten an der kroatischen Grenze brutal nach Bosnien zurückgeknüppelt werden. Ich lasse mir von niemandem erzählen, das sei unserer politischen Führungsebene nicht bekannt und es sei ihr nicht sehr viel lieber als wieder ein paar Tausend Einreisende täglich.
Was den Ausdruck „Solidarität“ betrifft, haben sich bereits im Herbst 2016 einige EU-Mitgliedstaaten, darunter Deutschland, darauf geeignet, dass Solidarität auch in der effektiven Absicherung der eigenen Grenzen gegen Migranten bestehen kann. (Eine Position, die der des Parlaments in mehr als einer Hinsicht diametral entgegengesetzt ist).
Holly01
17. August 2019 @ 10:32
@ Kleopatra:
Sehr schöne Text.
Das ätzende ist diese Differenz zwischen Anspruch und Tat.
Zwischen Sonntagsreden und politischem Handeln.
Zwischen Wunsch und Wirklichkeit.
Da verstecken sich alle hinter hohlen Phrasen.
Wir haben Armut in der EU.
Wir befördern diese Armut mit der Wirtschaftspolitik..
Wir rauben Gesellschaften, Völker und Kontinente aus, so gut es geht.
…
Wir weigern uns die Folgen dieser Handlungen auch nur zuzugeben.
Da herrschen selektiver Hör- und Denkverlust.
Da wird verleugnet, gelogen, doppelte Moral und doppelte Standards installiert und am Ende auch nur noch mit einer (völlig verzerrten“ Sichtweise) wahr genommen.
.. und diese Halbaffen aus der Politik denken die Menschen merken das kollektiv nicht …
Doch liebe Leser, tun sie ….
vlg
Kleopatra
16. August 2019 @ 09:09
Die Kritik, der Rat habe sich „als unfähig erwiesen …, die EU zu reformieren, den Euro zu stärken, die Flüchtlingspolitik fair zu gestalten usw.“ verkennt, dass es um den Ausgleich zwischen unterschiedlichen politischen Zielen und Interessen geht. Es gibt eben nicht die einzige mögliche Lösung, die jedem einleuchten muss, sondern unterschiedliche spezifische Probleme und Sichtweisen. Zum Beispiel war der letzte substantielle Versuch zur Reform der EU der Verfassungsvertrag, der bekanntlich von Mehrheiten der Abstimmenden in Frankreich und den Niederlanden abgelehnt wurde, also gerade nicht vom Rat (der hatte ihm zugestimmt). Man sieht daran auch, dass ein neuer institutioneller Rahmen (der Konvent) auch nicht unbedingt eine Einigung produzieren muss, und vor allem, dass er die offenkundige Selbsttäuschung seiner Teilnehmer in der Frage, ob sie eigentlich die Bürger repräsentieren, für die sie zu handeln beanspruchen, nicht verhindert hat.
ebo
16. August 2019 @ 09:55
Richtig, in der EU geht es um Interessen-Ausgleich. Das gelingt im Europaparlament jedoch weitaus besser als im Rat, wie man am Beispiel der Flüchtlingspolitik sieht: Die Abgeordneten haben einen fertigen Entwurf, der Rat schiebt das Thema vor sich her. Was den Verfassungsvertrag betrifft: Im Rückblick zeigt sich, dass es ein großer Fehler war, ihn in fast unveränderter Form in den Lissabon-Vertrag zu überführen. Der Rat ist über Mehrheiten in Frankreich und in den Niederlanden hinweggegangen und hat in beiden Ländern die EU-Skepsis genährt. Der Lissabon-Vertrag wurde – auf Drängen des Rates – in Iralnd sogar zweimal zur Abstimmung gestellt. So wird Demokratie ad absurdum geführt.
Kleopatra
16. August 2019 @ 10:15
Wenn der „fertige Entwurf der Abgeordneten“ den vitalen Interessen des einen oder anderen Mitgliedslandes nicht passt, kann er eben nicht verabschiedet werden. Abgesehen davon, dass die Flüchtlingsfrage die einzelnen Mitgliedstaaten mit unterschiedlicher Intensität und in unterschiedlicher Weise trifft und deshalb der Versuch einer einheitlichen Politik für die ganze EU schwer zu realisieren ist.