Die neue deutsche Frage
Die deutsche Europapolitik bereitet Brüssel zunehmend Sorgen. Das EZB-Urteil, der Streit um das neue EU-Budget und die anhaltende Grenzschließung sorgen für Spannungen. – Was will Berlin? Das ist die neue deutsche Frage.
Es war ein ungewöhnliches Eingeständnis: „Europa ist momentan sehr zerbrechlich“, sagten die EU-Spitzen zum Europatag am 9. Mai. Was sie damit meinten, sagten sie nicht. Doch die größten Sorgen dürfte ihnen derzeit das größte Mitgliedsland machen – Deutschland. Die Bundesrepublik stellt sich in der Coronakrise fast überall quer – und blockiert dringend benötigte Lösungen: Die drei größten Probleme:
- EZB und EuGH. Das Bundesverfassungsgericht hat die Anleihekäufe der Zentralbank als teilweise verfassungswidrig eingestuft und dem höchsten EU-Gericht eklatante Fehler vorgeworfen. Dies führt nun zu einer Krise, die die Geldpolitik, aber auch das Europarecht erschüttert. Die Kommission erwägt deshalb sogar ein Vertragsverletzungs-Verfahren, mehr hier
- Das neue EU-Budget und die Schulden. Bundeskanzlerin Merkel wendet sich vehement gegen den Plan von Kommissionschefin von der Leyen, das nächste EU-Budget zur Schuldenaufnahme zu nutzen, um so ein billionenschweres “Recovery Instrument” zu schaffen. Der Plan der EU-Behörde musste deshalb verschoben werden, es droht ein Eklat – mehr hier
- Die Grenzen und der Binnenmarkt. Die Bundesregierung hat die deutschen Schengen-Grenzen ohne Rücksprache geschlossen und will sie nun nicht mehr aufmachen. Dabei gefährdet die Schließung den Binnenmarkt, von dem Deutschland bisher besonders profitierte. Nun wächst der Druck – nicht nur in Berlin, sondern auch in Paris und Luxemburg. Mehr hier
In normalen Zeiten wäre das alles vielleicht nur halb so wild. Doch es sind keine normalen Zeiten. Vielmehr sieht es so aus, als könne Deutschland die Coronakrise nutzen, um den anderen seinen Willen aufzuzwingen. Was will Berlin? Das ist die neue deutsche Frage.
Sie stellt sich auch deshalb mit besonderer Dringlichkeit, weil Deutschland am 1. Juli den sechsmonatigen Ratsvorsitz übernimmt. Ausgerechnet das Land, das seine Partner hinhält , soll den europäischen Neustart aus der Krise organisieren.
Bisher sieht es nicht so aus, als sei Berlin dafür gut gerüstet. Die drei Tests, die der britische Historiker Timothy Garton Ash auf dem Höhepunkt der Coronakrise formuliert hat, hat Merkel jedenfalls noch nicht bestanden…
Siehe auch “Übersteht die EU diese drei Tests?”
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Watchlist
Nach Deutschland und Österreich beginnen am Montag auch erste “Lockerungs-Übungen” in Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Spanien. So dürfen in Belgien alle Geschäfte wieder öffnen, allerdings unter großen Sicherheitsvorkehrungen. So richtig koordiniert ist das alles nicht, an die Exit-Strategie der EU-Kommission hält sich kaum jemand…. Mehr hier
Was fehlt
Die schönen Bilder vom Europatag. Fast alles, was Rang und Namen hat, hat an einem Video-Mosaik teilgenommen, das dann auf Twitter verbreitet wurde. Es wurde immerhin fast 450.000 Mal aufgerufen. Die politischen Botschaften gehen allerdings kaum über “Europa ist Freiheit” hinaus. Die Werbeclips werden immer professioneller, der Inhalt immer dünner…
Das Letzte
Auch Brüssel kennt seine Verschwörungstheorien – jedenfalls, wenn es um den Brexit geht. Das UK bereite sich darauf vor, die Handelsgespräche mit der EU abzubrechen und die Schuld auf die Coronavirus-Pandemie zu schieben, meint der zuständige EU-Handelskommissar Phil Hogan. Ein böser Verdacht – trotzdem will man am Montag wieder reden…
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>Klaus H.
12. Mai 2020 @ 00:19
Ja – was will es denn wirklich – dieses europäische Kernland
Ökonomisch ein Riese und politisch doch immer noch ein einflussreiches Land.
Unter dem gegenwärtig regierenden Spektrum ist eine antieuropäische
Initiative gewiß nicht denkbar. Die Aufrechterhaltung der Einheitswährung
ist Staatsräson, ganz im Gegenteil zu den Trittbrettfahrern aus Budapest
oder Warschau die zudem noch die demokratischen Grundregeln der EU
mit Füßen treten.
Denkbar wäre es jedoch die Strategie des Laisez faire aufzugeben und klare
Grenzen zu setzen. Wenn schon alle unter Corona ihre Landesgrenzen nach gutdünken und ohne Absprache schließen , dann könnte man diese Grenzkontrollen auch für den Warenverkehr von und nach Polen für eine geraume Zeit verschärfen.
Wenn Frankreich und die Niederlande diese vorgehen auch gegenüber Grossbrittanien praktizieren entstünde ein Kraftzentrum. Solch ein handlungsfähiges Kraftzentrum ist nötig um die vielfältigen Konstruktionsfehler der EU korrigieren und den Lissabonvertrag aufzuschnüren. Diese Politik muß nun beginnen.
ebo
12. Mai 2020 @ 09:22
Mein Eindruck ist, dass Merkel kein Kraftzentrum will. Andernfalls hätte sie längst auf die Vorstöße aus Frankreich eingehen können. Sie will auch keine starke EU. Alles wird in der Schwebe gehalten, denn bisher hat Deutschland maximal vom Status Quo profitiert.
Claus Hiller
11. Mai 2020 @ 12:53
Zu EZB und EuGH: Verstehe ich das richtig? Es „erschüttert das Europarecht“, wenn das Bundesverfassungsgericht urteilt, dass das EuGH doch bitte gültiges Europarecht beachten möge? Und dass dieser Affront ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland auslösen könnte?
Zur Grenzschließung: Ob bei Aufrechterhaltung des freien Warenverkehrs nun Personenkontrollen den EU-Binnenmarkt ernsthaft „gefährden“ können oder ob es um „Open Borders“-Ideologie geht, sei dahingestellt. Immerhin: Die Bundespolizei meldet 1.900 Fahndungstreffer durch Corona-Grenzkontrollen. (Welt, 10. Mai) Das ist ja schon mal ganz beachtlich. 6 Wochen mit 1.900 Treffern entspräche, ignorierte man saisonale Schwankungen, rund 16.000 Personenfahndungstreffer pro Jahr. Von den insgesamt 300.000 vom BKA zur Fahndung ausgeschriebenen Personen wären es pro Jahr fast 6%, auch wenn es wohl weniger wird, weil es sich herumspricht. Trotzdem keine schlechte Bilanz für Herrn Seehofers Kriminalitätsbekämpfung und Innere Sicherheit. Wie sagte Frau Merkel im Jahr 2015 noch, man könne die Grenzen nicht . .? (Na, lassen wir das.)
ebo
11. Mai 2020 @ 13:06
Sicher, man kann Grenzen schließen, auch in Schengen. 2015 wollte nur niemand die Verantwortung übernehmen.
Diesmal ist es genau umgekehrt: Niemand will Verantwortung übernehmen, die Grenzen wieder zu öffnen!
Ich vermute, Neckermann und der ADAC müssen noch ein wenig Druck machen, um den Sommerurlaub zu retten – dann gehen die Schlagbäume bald wieder hoch 🙂
Kleopatra
12. Mai 2020 @ 07:39
Solange innerhalb der beteiligten Länder zum Teil keine Bewegungsfreiheit besteht, wirkt die Forderung nach Aufhebung der Grenzkontrollen absurd. Und etwa in Frankreich darf man sich nach wie vor im Inland nicht uneingeschränkt frei bewegen (oder irre ich mich in dem Punkt?), und wenn ich die Einteilung in Grüne” und “Rote Zone” richtig im Kopf habe, ist ausgerechnet die an Deutschland angrenzende Zone rot.
ebo
12. Mai 2020 @ 09:17
Bei Frankreich haben Sie recht. Dennoch ist die deutsche Haltung inkonsistent. Die Grenzen zu Belgien und Holland waren nie zu, Luxemburg hingegen ist fast schon eingekesselt (alle Nachbarn haben dicht gemacht, auch Deutschland). Und was ist mit der Schweiz und Österreich?
Holly01
11. Mai 2020 @ 10:25
Also das ist eine blöde VT 😉
Johnson wurde gewählt DAMIT er einen harten Brexit durchsetzt.
Die Vorgabe: Wir konnten uns in 2 Jahren nicht einmal auf einen Zeitplan einigen, aber wir Briten erwarten einen Gesamtvertrag innerhalb von 6 Monaten; war von Anfang an faul.
Das die Briten nicht verhandeln wollen, war von Anfang an klar.
Die wollen nur raus und zwar so schnell wie möglich.
Übrigens auch ein starker Hinweis darauf das Deutschland nicht blufft, sondern die EU sprengen wird.
Alte Weisheit: when you panik, panik first ….
Die Briten werden auch ihre “EU-Schulden” nicht bezahlen. Soll die EU doch klagen … bei wem auch immer ….
vlg