“Die Briten waren dumm, die EU ist undemokratisch”
Was ist denn plötzlich in der EU-Kommission los? Gleich zwei führende Eurokraten überraschen beim ersten Auftritt nach der Sommerpause mit unbequemen Aussagen, die in Brüssel lange als tabu galten.
Den Auftakt machte M. Selmayr, der Kabinettschef von Kommissionspräsident Juncker. Er überrascht mit einem Zitat zum Brexit:
„Der Brexit war eine dumme Entscheidung, die allerdings nicht rückgängig zu machen ist. Einen Exit vom Brexit wird es nicht geben.“
Kurz danach legte Währungskommissar Moscovici seine Beichte ab. Der Franzose ssagte auf einer Konferenz in Italien, die Entscheidungsstrukturen in der Eurogruppe wiesen erhebliche demokratische Defizite auf.
Mit Blick auf das Griechenland-Programm kämen sie einem „demokratischen Skandal“ gleich. Die Euro-Finanzminister hätten hinter verschlossenen Türen „Pläne von Technokraten beschlossen, die das Schicksal von Menschen bis ins Detail prägen“.
Dies sei geschehen, ohne dass die Medien wirklich wüssten, was gesagt worden sei, und ohne dass es klar festgelegte Kriterien oder Leitlinien gebe. Nachzulesen ist diese Beschwerde in der “FAZ”.
Was soll man davon halten? Moscovici geht es offenbar darum, die Forderung des französischen Staatschefs Macron nach einem radikalen Umbau der Eurozone zu stützen.
Macron fordert unter anderem eine parlamentarische Vertretung der Eurozone und einen Euro-Finanzminister, der dem neuen Gremium rechenschaftspflichtig sein soll.
Und Selmayr? Der muss wohl seinen Frust über die letzte, gescheiterte Brexit-Runde wiedergeben. Wenn die Verhandlungen weiter ins Leere laufen, gerät nämlich der Zeitplan der Kommission durcheinander…
Siehe auch “Die Brexit-Falle”
Peter Nemschak
6. September 2017 @ 10:11
@ebo Über die Mehrheit der Eurostaaten hinweggesetzt? Da fehlt mir der Beweis. Varoufakis kann doch nicht den Gläubigern vorschreiben, was sie zu tun haben. Er hat die EU ein halbes Jahr mit seinen Belehrungen belästigt. Sie stellen die Welt auf den Kopf. Warum glauben Sie, dass sich die Mehrheit der Europäer ein linkes Europa in Ihrem und Varoufakis Sinn erträumt? Die linke Regierung in Griechenland ist doch alles andere als ein Maßstab für die EU. Fragen Sie einmal Herrn Seehofer und die Mittel- und Osteuropäer, was sie davon davon halten. Wenn es zu unterschiedlichen Integrationsgeschwindigkeiten in Zukunft kommen sollte, ist jedes Land gut beraten vorne mit dabei zu sein. Sich zurücklehnen und auf die Wohltätigkeit der anderen zu verlassen, ist kein zukunftsweisender Weg. Innovation und Leistungsbereitschaft sind angesagt. Im übrigen hat Moscovici eifrig beim von Ihnen kritisierten Griechenlandpaket mitgewirkt und will plötzlich nicht mehr dabei gewesen sein.
ebo
6. September 2017 @ 10:19
Lesen Sie einfach nochmal die Blogposts aus der Zeit nach. Juncker und Moscovici haben die Griechen damals an die Hand genommen und ihnen geholfen. Schäuble hat das zurückgewiesen und die EU-Kommission zurechtgewiesen. Im Juli hat er dann in einer Nacht-und-Nebel-Aktion den “Timeout” für Griechenland gefordert. Nur eine Handvoll EU-Länder war eingeweiht, nicht einmal Frankreich wußte bescheid. Nennen Sie das ein demokratisches Verfahren?
Peter Nemschak
6. September 2017 @ 11:58
Ob eine Abstimmung unter den Gläubigern in der Eurozone ein anderes Ergebnis gebracht hätte, wage ich zu bezweifeln. Es ist der Steuerzahler in den Gläubigerländern, der letztlich das Sagen haben muss, nicht die Kommission. Wenn man das Prinzip Pluralität der Mentalitäten und Gesellschaftsmodelle innerhalb der EU bejaht, muss man ein Wohlstands- und Sozialgefälle zwischen Staaten unterschiedlichen wirtschaftlichen Niveaus zur Kenntnis nehmen, außer man ist zu nachhaltigen Transferzahlungen bereit, was viele ablehnen. Die EU ist ein subsidiär wirkendes Gebilde, in erster Linie verantwortlich für Aktivitäten welche ein einzelnes Mitgliedsland sinnvollerweise nicht allein schaffen kann: Sicherheits-, Außenhandel-, Wettbewerbspolitik so wie einen Minimalstandard der Sozialpolitik. Alles, was nicht speziell supranational delegiert ist, liegt in der Verantwortung der Mitgliedsländer. In Zukunft wird man in Sachen Migration bestimmte allgemeine Grundsätze vereinbaren und durchsetzen müssen, damit die Mitgliedsländer von den Migranten nicht gegeneinander ausgespielt werden können. Die EU-Obergrenze für Migration wird die Summe der von jedem Mitgliedsland autonom festgesetzten Obergrenze sein. Wenn jedes Land seine Obergrenze festlegt, wird auch Deutschland nicht umhin kommen, eine für sich zu definieren.
Schmitz Reinard
5. September 2017 @ 11:33
Aber vielleicht so: wenn die EU eine Zukunft haben soll, dann könnten diese Flämmchen des gesunden Menschenverstandes ja darauf hinweisen, dass sich endlich was zu bewegen beginnt.
Peter Nemschak
5. September 2017 @ 12:45
Der Streit um wer etwas zahlt und wer etwas bekommt, wird auch in der EU nie enden. Das hat sie mit nationalen Staatswesen gemein.
Peter Nemschak
5. September 2017 @ 19:24
Moscovici war dabei, als die Entscheidungen zu Griechenland getroffen wurden. Sein Motto heißt: Haltet den Dieb! Ein übler Charakter, politischer Schleimer und Anbiederer, deren es zu viele in der Politik gibt.
ebo
5. September 2017 @ 20:02
Moscovici hat Recht, Schäuble hat die Demokratie verraten. In der Schuldenkrise 2015 hat sich Schäuble mehrfach über die neu gewählte griechische Regierung, die neu ernannte EU-Kommission (incl. Moscovici) und die Mehrheit der Eurostaaten hinweggesetzt. Sie können es auch bei Varoufakis nachlesen, sein Buch kommt bald auf deutsch.
Schmitz Reinard
5. September 2017 @ 11:30
Going! Jetzt aber. Der Mix ist scharf. Aber mehr eine Provokation, oder?
Peter Nemschak
5. September 2017 @ 11:23
Moscovici ist und bleibt ein eingefleischter Roter, der gemeinsam mit den österreichischen Linken im Jahr 2000 die Sanktionen gegen die rechtskonservative Regierung in Österreich betrieben hat. Er hofft, dass er in Zukunft in Frankreich eine politische Rolle spielen wird. Auch bei mehr Transparenz in der Eurogruppe hätten sich die größten Gläubiger heftig gegen das Griechenlandpaket gewehrt. Es wird gerne vergessen, dass nach wie vor die Mitglieder des Rats ihren nationalen Wählern und Steuerzahlern verantwortlich sind. Die Briten haben demokratisch entschieden. Dass Demokratie nicht immer mit Klugheit gleichzusetzen ist, sollte all jenen klar sein, die nach mehr Demokratie rufen. Die Entscheidungsträger der EU sind allesamt demokratisch gewählte Politiker. Anderes zu behaupten, wäre glatte Lüge. Schon in den 1960- und 1970-iger Jahren haben Huntington und Buchanan für die USA darauf hingewiesen, dass ein zu viel an Demokratie den Staat dadurch schwächt, dass Partikularinteressen ihn überfordern und ohne moralische Hemmung die Staatsschulden in die Höhe treiben und langfristig die Geldwertstabilität gefährden. Die neoliberale Wende war eine Gegenbewegung zu dieser Fehlentwicklung.