Deutschland isoliert sich, Australien sträubt sich – und Showdown mit USA
Die Watchlist EUropa vom 31. Oktober 2023 –
Beim EU-Gipfel in der vergangenen Woche war die Welt noch in Ordnung. Im diplomatischen Ringen um den Krieg gegen den Hamas-Terror setzte sich Kanzler Scholz durch, Deutschland hat Israel den Rücken frei gehalten.
Doch nun steht das größte EU-Land dumm da. Scholz muß sich rechtfertigen, weil sich Berlin bei der Abstimmung in der UN-Generalversammlung zu einer Resolution für eine Waffenruhe im Nahen Osten enthalten hat, statt (wie von Israel erwartet) Nein zu sagen.
“Enthalten ist nicht genug”, kritisiert Israels Botschafter Ron Prosor. Sich bei einer Abstimmung zu enthalten, “weil man nicht direkt sagen kann, dass Hamas für dieses grausame Massaker verantwortlich ist“, sei zu wenig.
Mit Unverständnis reagieren aber auch Frankreich, Spanien und Belgien, die der Resolution zugestimmt haben. Frankreichs Botschafter bei den UN sagte, sein Land stimme dem Text zu, weil “nichts das Leiden von Zivilisten rechtfertigen könne”.
Deutsche Besserwisser
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Deutschland sitzt zwischen allen Stühlen – und isoliert sich weiter, indem es auch noch den Lehrmeister spielt. Nicht Berlin habe falsch gelegen – sondern die große Mehrheit der 120 Länder, die die Resolution beschlossen haben.
Nicht Scholz und die deutsche EU-Chefin von der Leyen hätten sich geirrt – sondern Ratspräsident Michel und EU-Chefdiplomat Borrell, die den Schutz der 2 Millionen Zivilisten in Gaza einfordern.
Auch alle möglichen anderen Promis und Organisationen, die auf die humanitäre Katastrophe hinweisen und sich mit den Palästinensern solidarisieren, werden von deutschen Besserwissern abgekanzelt.
Amnesty International, Fridays for Future oder R. D. Precht – alle sollen plötzlich antiisraelisch oder gar antisemitisch sein!
Schweigen zu Netanjahu
Dabei ist das, was sie sagen, meist noch harmlos im Vergleich zu dem, was die israelische Zeitung “Haaretz“ an Israel-Kritik bringt. Regierungschef Netanjahu müsse sofort weg, heißt es im jüngsten Editorial.
In Deutschland hört und liest man nichts davon. Kritik an Netanjahu und seiner rechtsradikalen Regierung ist in Berlin (anders als in Washington oder Paris) tabu!
Deutschland isoliert sich nicht nur politisch, sondern auch intellektuell – und alles aus einer falsch verstandenen, weil gleichzeitig (innenpolitisch) zu engstirnigen und (außenpolitisch) zu weit ausgelegten Staatsräson…
Siehe auch “Grenzen der Staatsräson”
News & Updates
- Australien sträubt sich gegen Freihandel. Die EU erhält vorerst keinen besseren Zugang zu Seltenen Erden aus Australien – die Verhandlungen über ein Freihandels-Abkommen sind nach fünf Jahren überraschend gescheitert. – Mehr hier (Blog)
- Frankreich klagt gegen “Euro-English”. Die französische Regierung trägt ihren Kampf gegen die englische Sprache nun auch in die EU-Kommission. Paris habe Klage gegen “English-Only”-Aufnahmetests eingelegt, meldet “Politico”. – Siehe auch Die Engländer gehen, „broken English“ bleibt
- Rutte will Nato-Chef werden. In den Niederlanden hat er keine Mehrheit mehr, in der EU ist er wegen seines Geizes verschrieen. Das hindert M. Rutte offenbar nicht daran, sich Großes vorzunehmen: Er will Nato-Generalsekretär werden, berichtet die “NZZ”.
Das Letzte
Showdown mit den USA. Am 31. Oktober endet die Deadline für die Lösung des transatlantischen Handelsstreits, den Ex-US-Präsident Trump mit seinen Strafzöllen auf Stahl aus EUropa ausgelöst hatte. Eigentlich sollte der Streit schon beim letzten EU-USA-Gipfel ausgeräumt werden – doch das ist nicht gelungen. Nun droht ein Showdown mit absurden Folgen. “American Whiskey Could Soon Be Subject To Massive New Tariffs In Europe”, warnte “Time” vor zehn Tagen. Wird US-Whiskey bald unerschwinglich – oder finden Brüssel und Washington doch noch eine Lösung in letzter Minute?
Thomas Damrau
1. November 2023 @ 08:43
Ohje – Bourbon zu verteuern, ist völlig kontraproduktiv: Der heutige Raubtier-Kapitalismus ist ohne erschwingliche Drogen nicht zu ertragen. Fragen Sie die Banker in Frankfurt …
Und irgendwann wird sich die Geschichtsforschung fragen, was die Ursache für die Welt-Revolution im frühen 21. Jahrhundert war …
KK
1. November 2023 @ 14:37
Das mit dem Bourbon lässt mich kalt, ich bevorzuge ohnehin Single Malts. Und wenn es so weiter geht mit dem Raubtierkapitalismus muss ich wohl bald zu Fassstärken greifen… 😉
Monika
31. Oktober 2023 @ 18:25
Was mich verblüfft ist, dass der Faktor “Zeit” bzw. die Veränderungen, die über die Zeit stattgefunden haben, von niemndem und nirgends ins Kalkül gezogen werden. Die staatliche Verfasstheit Israels hat in den vergangenen Jahren sehr starke Veränderungen erfahren. Diese kulminieren seit Kurzem in beeindruckenden Demonstrationen einer Vielzahl bürgerlicher Zusammenschlüsse aus den verschiedensten gesellschaftlichen Schichten und Institutionen, Auslöser war eine geplante “Justizreform” des ultranationalistischen Regierungsbündnisses. (siehe auch LE MONDE diplomatique Okt.2023, Charles Enderlin).
Nur einmal angenommen eine Nation hätte dem Deutschland der 2oer Jahre ein politisches Versprechen gegeben. Wäre es nicht sinnvoll gewesen, diese Verpflichtung in den 30er Jahren neu zu bewerten? Schließlich hat sich die politische Ausrichtung in diesen 10 Jahren glatt auf den Kopf gestellt.
Wären aus diesem Gedankenspiel nicht auch im aktuellen Israel-Dilemma Lehren zu ziehen, die “Staatsräson” betreffend? Wenigstens der Versuch, den Umfang und die Folgen der von Merkel in den damaligen Raum gestellten, ominösen Staatsräson zu konkretisieren und mit der aktuellen Verfasstheit des Staates Israel abzugleichen?
So wie es sich mir darstellt, fallen wir mit unserer bedingungslosen “nibelungentreuen” Unterstützung der ultranationalen Regierung Nethanjahu einer großen oppositionellen Bewegung in Israel förmlich in den Rücken! Wäre die Staatsräson nicht eher dort an der richtigen Adresse?
Godfried van Ommering
31. Oktober 2023 @ 10:03
Deutschland isoliert sich, und benehmt sich politisch als eine verbissene engstirnige Moralpolizei und wirtschaftlich als einen als Wohltäter vermummten Räuber. Und mich, und vielleicht andere auch, enttäuscht Deutschland darum so schmerzlich, weil ich ganz was anderes vom Land in der Mitte Europas erwarte, und auch fordere. Nämlich, das es auch politisch wie geistig als Mitte, die vermittelt und verbindet, in Erscheinung träte, das es das große Gespräch, wie das kleine, beleben würde, und daß Impulse des freien Denkens und des Handelns im Sinne der Humanität aus ihr hervorgehen würden. Deutschland als Herz, den Umkreis dienend, wie vom Umkreis belebt, eine alte, mittlerweile kaum gepflegte, kaum ernst zu nehmen Vorstellung, denn, leider, eine, die über die Geschichte schwebt: es gab und gibt bis jetzt keine Stelle wo sie haften könnte. Ihr Gegenteil jedoch trat und tritt „machtvoll“ in Erscheinung! Das bedeutet aber daß etwas Entscheidendes fehlt in Europa und in die Welt, daß in jeder Hinsicht die tragende und ordnende Mitte vermisst wird.
MarMo
31. Oktober 2023 @ 17:28
@Godfried: Eine ziemliche Überhöhung der Deutschen, scheint mir das. Ich stelle fest, dass die politische Debatte sowie Meinungspluralität an ihr Ende gekommen zu sein scheint in Deutschland. Scheinbar ist es eine Grundkonstante, dass die politischen und medialen Eliten (hoffentlich nicht wieder die Mehrheit der Bevölkerung) anfällig für Ideologien ist.
Stef
31. Oktober 2023 @ 08:58
Ich bin mir gar nicht so sicher, dass beim Kanzler Nibelungentreue ein großes Motiv ist. Das mag bei den ausgewiesenen Transatlantikern der Fall sein. Bei Scholz scheint mir eher Prinzipienlosigkeit und bei Merkel abgeschauter Opportunismus eine Rolle zu spielen, im Glauben, damit könne man sich immer geschickt aus unangenehmen Situationen und Zwiefelsfragen heraus lavieren. Dies führt zu dem Bedürfnis, sich möglichst immer so zu positionieren, dass man es allen wichtigen Akteuren recht macht. In Kriegszeiten herrscht aber Freund-Feind-Logik, da kommt man mit diesem Mindset nicht so weit, wie Ebo messerscharf herausarbeitet.
Ich kann gut nachvollziehen, dass man sich der Freund-Feind-Logik entziehen will, aber selbst das schafft Scholz nicht, indem er auf eine gesalzene Kritik an der israelischen Netanjahu-Regierung vollständig verzichtet. der Kanzler scheint sich noch nicht einmal entscheiden zu wollen was ihm wichtiger ist: Der mühsame Aufbau einer echten Friedensperspektive für Nahost (und btw. Ukraine) oder das den anderen “Schulhofkindern” gefallende Wohlverhalten. Beides gleichzeitig kann man nicht haben. Zwischen den Stühlen sitzt man in so einer Situation ohnehin immer.
Godfried van Ommering
31. Oktober 2023 @ 08:32
Ebo, mich beeindruckt dein Fazit zu Deutschland im heutigen Watchlist, denn es trifft ganz genau den Punkt der politischen aber auch intellektuellen Borniertheit in der Bundesrepublik, die vor Empörung und Entsetzen ( „es ist unsäglich!“) nur so dampft und sprudelt, und sich immer nur, starr, stur und trotzig, an ihre vorgefassten Meinung, an das einmal festgelegten Urteil hält, und dies von allen anderen fordert. Denken, Nachdenken verboten. Kein „ja, aber“! Verordnete Blindheit. Es ist rituelle Politik, die sich nicht mehr orientiert an das tatsächliche Geschehen, auch nicht wenn Gaza’s Straßen von Blut überfließen, und sich nur kümmert um das Aufrecht-erhalten des verordneten Diskurses. Du hast das sehr bündig und treffend dargestellt. Danke vielmals!
european
31. Oktober 2023 @ 07:26
Derweil wird wieder einmal gehitlert, diesmal bezüglich der Hamas und von niemand geringerem als Netanjahu selbst.
https://www.welt.de/politik/ausland/article248280498/Israel-Liveticker-Netanjahu-vergleicht-Krieg-gegen-Hamas-mit-Kampf-gegen-Hitler-Deutschland.html
„Man habe den Alliierten im Zweiten Weltkrieg trotz ziviler Opfer nicht gesagt, „rottet den Nationalsozialismus nicht aus“, sagte Netanjahu am Montag.“
Es ist immer dasselbe. Wenn jemand eine Legitimation für Krieg will, werden die Nazis und/oder Hitler bemüht. Die Vergleiche passen zwar nie, aber da ist immer die stille Hoffnung auf Einlenken alla „Naja, wenn es gegen einen Hitler geht, dann müssen wir natürlich zustimmen“ Stichworte wie „Hitler“ und „Nazi“ müssen ganz einfach als Argumente reichen.
KK
31. Oktober 2023 @ 07:38
„Es ist immer dasselbe. Wenn jemand eine Legitimation für Krieg will, werden die Nazis und/oder Hitler bemüht.“
Und wenn das, wie vergangenes Jahr noch, Paläsinenserpräsident Abbas macht, wird sofort von deutschen Politikern und anderen gefordert (und m.W. auch Strafanzeigen gestellt), diesen wegen „Verharmlosung des Nationalsozialismus/der Shoa“ nach dem Volksverhetzungsparagraphen strafrechtlich zu belangen – mal schauen, ob jetzt einer dieser eifrigen Empörten so konsequent ist, das gleiche jetzt bei Netanjahu zu forden.
Red Rabbit
31. Oktober 2023 @ 07:25
Staatsräson…oder auch Nibelungentreue. Die gute alte deutsche Nibelungentreue. Egal was da kommt und wohin es führt und was die anderen so machen. Im besten Deutschland aller Zeiten ist es halt eine auf (vermeintlich) politisch korrekt getunte Nibelungentreue. Denn wir haben ja was gelernt (aber Nibelungentreue ist immer noch unser Ding).
KK
31. Oktober 2023 @ 08:49
Und damit das auch so bleibt und in der Bevölkerung nicht in Frage gestellt wird, könnte vielleicht ja schon an einer Gestapo 2.0 gearbeitet werden:
https://www.nachdenkseiten.de/?p=105985
Freilich mit subtileren Methoden: Statt Folter, Einlieferung ins KZ und abschliessender Vernichtung könnte es, wenn die Informationen ansatzweise stimmen, dann in Zukunft ganz “smart” ablaufen: die Systemkritiker durch Denunziation sozial ächten, isolieren, nach Möglichkeit in die Arbeits- und Obdachlosigkeit treiben – so dass vielen Betroffenen am Ende wohl nur der Freitod als Ausweg erscheinen würde. Und alles natürlich wieder ausserhalb jeder Rechtstaatlichkeit. Das System ist immer das gleiche, nur die Methoden ändern sich.
Schöne neue Welt!