Der Nawalny-Biden-Komplex, die deutsche Türkei-Agenda – und surreale Impfziele
Die Watchlist EUropa vom 19. Januar 2021 –
Die Reaktion war ungewöhnlich schnell und heftig: Nur wenige Minuten, nachdem die ersten Meldungen von der Festnahme von Alexej Nawalny aus Moskau kamen, forderte die EU in Brüssel bereits seine Freilassung.
Es sei “inakzeptabel”, dass Nawalny direkt nach seiner Rückkehr nach Russland in Gewahrsam genommen worden sei, schrieb Ratspräsident Charles Michel bei Twitter.
Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell rief die russischen Behörden auf, Nawalnys “Rechte zu respektieren”. Eine “Politisierung” der Justiz sei nicht hinnehmbar, sagte der Spanier, in dessen Heimat die Justiz extrem politisiert ist (man denke nur an Katalonien).
Ähnliche Forderungen kamen aus fast allen EU-Ländern. Nur aus Ungarn kam keine Reaktion: Regierungschef Viktor Orban pflegt gute Beziehungen zu Wladimir Putin und will sich durch Nawalny offenbar nicht von seinem Schmusekurs abbringen lassen.
___STEADY_PAYWALL___
Ungarn dürfte denn auch versuchen, neue Sanktionen gegen Russland zu verhindern. Zuletzt hatte die EU Reiseverbote und Vermögenssperren gegen führende Vertreter der russischen Geheimdienste erlassen, um auf die Vergiftung Nawalnys mit der international geächteten Chemiewaffe Nowitschok zu reagieren.
Die Strafen waren auf Druck aus Deutschland verhängt worden. Allerdings hatte sich die Bundesregierung in Berlin zuvor geweigert, die deutsch-russische Gaspipeline Nord Stream 2 infrage zustellen. Das heiße Eisen der Sanktionen wurde nach Brüssel weitergereicht, der „Fall Nawalny“ sollte Nord Stream nicht stören.
Daran dürfte sich auch jetzt nichts ändern. Zwar wird in Osteuropa erneut der Ruf nach einem sofortigen Stopp der Pipeline laut. Auch FDP und Grüne in Berlin machen Druck. Doch in Brüssel spielt man kurz nach der Blitz-Reaktion auf Nawalnys Verhaftung schon wieder auf Zeit.
Brüssel weicht dem Thema Sanktionen aus – vorerst
Die EU-Kommission wich dem Thema Sanktionen am Montag aus. Nachfragen blieben unbeantwortet.
Dafür gibt es mehrere Gründe. Für den Gebrauch von Chemiewaffen hat die EU ein eigenes Sanktionsinstrument – für die Verhaftung bei der Einreise jedoch nicht. Die Außenminister hatten zwar im Dezember einen neuen Rechtsrahmen für Strafmaßnahmen erlassen, der dem amerikanischen „Magnitsky Act“ nachempfunden ist.
Damit lassen sich aber nur individuelle Menschenrechts-Verletzungen ahnden, kein (mutmasslicher) Missbrauch der Justiz. Zudem ist der neue Rechtsrahmen bisher noch nie eingesetzt worden. Die EU kann das neue Instrument also nicht nutzen, um aus der Hüfte zu schießen.
Last but not least will sich die EU mit der neuen US-Administration abstimmen. Wenn nicht alles täuscht, wird Präsident Biden von Anfang an auf Konfrontationskurs zu Russland gehen. Diese Chance wollen sich unsere Transatlantiker natürlich nicht entgehen lassen, da müssen sie dabei sein…
Siehe auch Kalter Krieg light und Lockdown 2.0
Watchlist
Wie geht es weiter mit der mißglückten europäischen Impfstrategie? Dazu will sich die EU-Kommission am Dienstag äußern. Nach einem Entwurf will Brüssel die Mitgliedsstaaten dazu drängen, mindestens 70 Prozent der Bevölkerung bis zum Sommer geimpft zu haben. Angesichts der aktuellen Lage in Deutschland, Frankreich oder Belgien und der Liefer-Schwierigkeiten bei Biontech/Pfizer klingt das surreal. Kommissionschefin von der Leyen ist im Begriff, den EUropäern erneut falsche, weil unerfüllbare Versprechen zu machen…
Was fehlt
Der Besuch von Außenminister Maas in Ankara. Drei Tage vor einer Visite des türkischen Chefdiplomaten Cavusoglu in Brüssel ging es offenbar darum, die deutsche Agenda für eine Annäherung an die Türkei abzustecken. Der darf die EU dann folgen. Man wolle die Beziehungen zwischen Deutschland und der EU zur Türkei “nachhaltig in eine konstruktive nach vorne gerichtete Entwicklung bringen”, sagte Maas dem “lieben Mevlüt”. Von den krassen Menschenrechts-Verletzungen, die anderswo sofort für Sanktionen sorgen (s.o.), sagte er nichts…
Hotlist
- Die Bahngesellschaft Eurostar, die den Kanaltunel betreibt, braucht Hilfe. Ohne staatliche Subventionen drohe die Schließung, berichtet der EU Observer. Der Verkehr war infloge der Corona-Beschränkungen um 95 Prozent zurückgegangen. Die Lufthansa wurde mit Milliarden subventioniert, die Bahn hat man vergessen…
- 90 Millionen Euro hat die EU seit 2017 für die Migranten in Bosnien zur Verfügung gestellt. Angesichts der katastrophalen Lage an der Grenze zum EU-Mitglied Kroatien muss man fragen: Was ist mit diesem Geld geschehen? – Die Analyse der “Deutschen Welle” steht hier. In Brüssel heißt es immer nur, man helfe ja…
- Die skandalumwitterte Grenzschutzagentur Frontex leistete sich eine teure Sause. Bei einem Dinner im Mai in Warschau seien 94.000 Euro verprasst worden, berichtet der EU Observer. Die Ausgaben für Empfänge und Feste steigen demnach jedes Jahr – kein Wunder, dass der Laden außer Kontrolle zu geraten droht…