Wo bleibt der Fortschritt?

Im Europaparlament hat die Debatte über die nächste Legislatur begonnen. Sozialdemokraten, Grüne und Liberale stellen ihre – widersprüchlichen – Bedingungen für die Wahl des Konservativen Juncker. Im Mittelpunkt steht der Streit um den Stabilitätspakt – dabei gäbe es es Wichtigeres.

Im Interview mit C. Crouch klang das zentrale Thema schon an: Die EU darf sich nicht nur um die Schaffung und Ausweitung von Märkten kümmern, sie braucht auch eine Sozialagenda.

Unter Ex-Kommissionschef Delors war dies noch eine Selbstverständlichkeit. Unter Barroso ist dies völlig in Vergessenheit geraten. Er machte alle Pläne von Sozialkommissar Andor zunichte.

Schlimmer noch: Barroso und die “Euroretter” haben sich daran gemacht, den Sozialstaat zurückzubauen und die Tarifautonomie einzuschränken – und zwar nicht nur in den Krisenländern, sondern in ganz Euroland.

Das Mittel der Wahl ist das “Europäische Semester” mit seinen “länderspezifischen Empfehlungen”. Die Kommission fordert dabei ständig Lohnmäßigung, Erhöhung des Rentenalters, Kürzung der Renten etc pp.

Wenn es nach Kanzlerin Merkel geht, sollen neoliberale “Reformen” künftig sogar Pflicht werden – entweder im Zuge von “Reformverträgen”, oder als Bedingung für mehr “Flexibilität” beim Stabilitätspakt.

Damit ist die nächste Welle des Sozialabbaus programmiert. Dabei ist die Sozialpolitik bisher noch eine nationale Domäne. In vielen Ländern (wie D) steht einem Kahlschlag das Sozialstaatsgebot gegenüber.

Zudem sind sich die meisten Experten einig, dass die EU endlich als Motor des sozialen Fortschritts auftreten und agieren muss, wenn ihre Akzeptanz (und Legitimität) nicht endgültig in den Keller gehen soll.

Dem steht allerdings die bisherige Dominanz des Binnenmarkts gegenüber. Unternehmerische Freiheit sei im Zweifel wichtiger als soziale Rechte, befand das höchste EU-Gericht in mehreren Fällen.

Doch es gibt einen Ausweg, in Gewerkschafts-Kreisen wird er seit Jahren unter dem Begriff “soziale Fortschrittsklausel” diskutiert. Der Grundgedanke ist recht einfach:

Ein Zusatz zum Lissabon-Vertrag soll sicherstellen, dass soziale Schutz- und Arbeitnehmerrechte im EU-Recht mindestens den gleichen Stellenwert haben wie die Dienstleistungsfreiheit und der Binnenmarkt.

Im Zweifel sollten die sozialen Grundrechte sogar Priorität erhalten, heißt es in einem Vorschlag des EGB vom März 2008. Der Fortschritt erhielte damit endlich Vorrang vor dem Sozialabbau.

Eine solche Klausel wäre sogar relativ leicht umsetzbar. Die EU-Chefs könnten sie als Ergänzung zum Lissabon-Vertrag einführen – ohne aufwändige Vertragsänderung. Die Umsetzung erfolgt subsidiär.

Ein ähnliches Verfahren hat Merkel bereits angedeutet – sie will Großbritannien durch einen Vertragszusatz neue Sonderrechte gewähren. Doch was Merkel und Cameron können, können andere auch.

Im Gegenzug könnten Sozialdemokraten und Grüne eine soziale Fortschrittsklausel fordern. Werden sie es wagen? Oder werden sie sich mit Symbolpolitik um den Stabilitätspakt begnügen?

Die Debatte um die Wahl Junckers wird es zeigen…

P.S Übrigens gibt es im Berliner Koalitionsvertrag ein – wenn auch vages – Bekenntnis zum sozialen Europa. SPd-spitzenkdanidat Schulz hat es hineingeschrieben – ob sich irgend jemand daran erinnert?