Wie man die Europawahl richtig bewertet

Zehn Tage nach der Europawahl liegen immer noch keine endgültigen Ergebnisse vor. Auch die Sitzverteilung im neuen Parlament und die Zusammensetzung der Fraktionen ist weiter unklar. Wie soll man da die Ergebnisse der Wahl richtig interpretieren?

Darüber habe ich mit Experten der Eliteschule “Sciences Po” und Journalisten-Kollegen in der Maison Heinrich Heine in Paris diskutiert. Das wichtigste Ergebnis vorweg: Der Ausgang der Wahl ist nicht so eindeutig, wie dies in Brüssel gern dargestellt wird.

So sprach Ratspräsident Donald Tusk von einem “Sieg der Demokratie” – wegen der hohen Wahlbeteiligung. Experten wie der Chef des Brüsseler Thinktanks CEPS, Daniel Gros, sehen die EU-Abgeordneten gestärkt. “A Parliament is born”, schreibt Gros voller Begeisterung.

Nun ja, erst einmal wurden die bisher tonangebenden Fraktionen – EPP und S&D – geschwächt. Auch die politische Mitte ist geschrumpft, trotz des Erfolgs der Grünen und Liberalen. Und ein Initiativrecht fehlt weiter. Ein vollwertiges Parlament hat die EU also immer noch nicht.

Es greift eben zu kurz, die Europawahl allein aufgrund der Beteiligung und der Stimmen für Nationalisten, Rechtspopulisten und EU-Gegnern zu betrachten. Auch die in Berlin weit verbreitete Lesart, den Wahlerfolg an den (deutschen) Spitzenkandidaten zu messen, führt in die Irre.

Denn die “Spitzen” haben sich bei dieser Wahl gerade nicht bewährt. Manfred Weber und Frans Timmermans konnten nur in ihrer jeweiligen Heimat Achtungserfolge einfahren. Für ihre Parteien haben sie – EU-weit betrachtet – nicht mehr Stimmen herausgeholt, im Gegenteil.

Es deutet auch nichts darauf hin, dass die Spitzenkandidaten zu einer größeren Mobilisierung der Wähler beigetragen hätten. Die TV-Debatten, in denen sie sich präsentierten, hatten miserable Einschaltquoten, und die Nachwahl-Umfragen fallen vor allem für Weber vernichtend aus.

Ich schlage daher vor, die Europawahl anders zu bewerten – in drei Dimensionen. Und zwar (1.), indem man sie an den vom Parlament selbst formulierten Zielen mißt, (2.), indem man auch die nationale Ebene betrachtet, und (3.). indem man die institutionelle Dimension in den Blick nimmt.

Schließlich fand die Europawahl nicht im luftleeren Raum statt. Sie wurde vom Europäischen Rat eingerahmt – mit einem EU-Gipfel vor und einem weiteren nach der Abstimmung. Und sie wurde von 28 nationalen Regierungen durchgeführt, die nun die Ergebnisse der Wahl ausbaden müssen.

Nur die Ziele hat das Europaparlament selbst gesteckt – sie waren politischer und ehrgeiziger denn je.

1. Die selbst gesteckten Ziele

  • Höhere Wahlbeteiligung (“Diesmal wähl ich”-Kampagne): Erreicht, mit ca. 50 % lag die Beteiligung so hoch wie seit 20 Jahren nicht mehr.
  • Den Vormarsch von Nationalisten und EU-Gegnern stoppen (“Schicksalswahl”, “Ihre Stimme für Europa” etc.): Nur bedingt erreicht. Die Rechten bekommen mehr Sitze als im letzten Parlament.
  • Den nächsten Präsidenten der EU-Kommission wählen (so die Devise bei der TV-Debatte im Europaparlament): Bisher nicht erreicht. Das System der Spitzenkandidaten bleibt umstritten, Ausgang offen.

2. Die nationalen Ergebnisse

  • Während der Rechtsruck auf EU-Ebene eingedämmt wurde, setzt er sich in vielen Mitgliedsstaaten fort – mit Wahlsiegen in Italien, UK und Frankreich. Auch in Belgien, Holland und Österreich sind Rechte weiter stark, von Ungarn ganz zu schweigen.
  • Während die Demokratie in Straßburg durch die hohe Wahlbeteiligung gestärkt bzw. neu legitimiert wurde, weitet sich die Demokratie-Krise in vielen Mitgliedsstaaten aus. In vielen Ländern hat diese “historische” Wahl ein politisches Erdbeben gebracht!
  • Die unfreiwillige Teilnahme Großbritanniens und der Brexit stellen das neugewählte EU-Parlament und seine Arbeitsfähigkeit infrage. Die britischen Abgeordneten könnten im Herbst wieder gehen, was das Machtgefüge in Straßburg erschüttern würde.

3. Die institutionelle Ebene

  • Wer setzt sich im Machtkampf zwischen Parlament und Rat durch? Dies ist noch nicht abzusehen. Im Rat ist der Widerstand gegen die Spitzenkandidaten gewachsen, im Parlament stehen sie sich gegenseitig im Weg. Am Ende könnte das gesamte System wanken.
  • Welche Rolle spielen die Parteienfamilien? Sie wirken als Scharnier zwischen Parlament und Rat. EVP, S&D und Liberale haben je zwei Vermittler benannt – doch es sind keine Abgeordneten, sondern Regierungschefs! Und die grünen Wahlgewinner sind nicht beteiligt…
  • Kommt es zu einer Aufwertung des Ratspräsidenten? Donald Tusk soll ein Personaltableau vorlegen, das sowohl den nächsten Kommissionschef als auch den Präsidenten des Europaparlaments (!) umfasst. Wo bleibt da die Autonomie des Parlaments?

Fazit

Die drei Dimensionen zeigen, dass sich das Ergebnis der Europawahl nicht in einem Satz zusammenfassen lässt – und auch nicht in einem positiven Ausblick. Man muß eher schon von doppeldeutigen Ergebnissen sprechen, die komplexe Konsequenzen für die EU und ihre Mitglieder haben.

Das könnte nicht nur zu einem Ende der GroKo in Berlin und zu einer institutionellen Krise in Brüssel führen. Es könnte auch, wenn die Politik die Botschaft der Wähler nicht hört, zu einer großen Enttäuschung werden und in einer Demokratie-Krise auf EU-Ebene münden.

Deshalb spreche ich auch von der “Wahl der letzten Chance” – analog zu Junckers “Kommission der letzten Chance”…

Siehe auch “Das SPD-Debakel und die Demokratie-Krise” und “Der Wählerauftrag ist schon vergessen”