Weiter so? Das haben die Wähler nicht gewollt
Die Europawahl ist vorbei, nun wird Bilanz gezogen. Und siehe da: Trotz des Rechtsrucks in Frankreich, Österreich und teilweise auch in Deutschland sieht das Ergebnis aus Sicht der “überzeugten” EU-Politiker gar nicht so schlecht aus.
“Die Mitte hat gehalten”, freut sich EU-Kommissionschefin von der Leyen, die eine zweite Amtszeit antreten will. Ihre konservative EVP liegt wie erwartet vorn. Mit Sozialdemokraten und Liberalen, vielleicht sogar den Grünen, scheint eine Mehrheit im neuen Parlament sicher.
Ganz anders sieht das im Europäischen Rat aus, der sie nominieren muß. Da könnten einige Staats- und Regierungschefs noch quer schießen. Frankreichs Staatschef Macron käme ebenso als Spielverderber infrage wie Italiens Regierungschefin Meloni, oder Viktor Orban aus Ungarn.
Wahlkampf in eigener Sache
Deshalb muß von der Leyen nun Wahlkampf in eigener Sache führen – und die Chefs überzeugen. Da werden etliche Telefonate und Gespräche in Brüsseler Hinterzimmern fällig. Geritzt ist die zweite Amtszeit noch nicht, zumal die Kommissionsspitze gern mit anderen Personalfragen verknüpft wird.
Das eigentliche Problem liegt aber ganz woanders: Von der Leyen und die EU-Chefs haben kein Mandat zum Weitermachen. Wenn diese Europawahl eines gezeigt hat, dann das: Die Wähler wollen kein “Weiter so”.
Die CDU-Politikerin hat nicht einmal in ihrer Heimat eine Mehrheit hinter sich – die meisten Deutschen wollen einen Wechsel an der Spitze der EU. Die Bilanz ihrer ersten fünf Jahre in Brüssel fällt erschreckend aus – EUropa fällt zurück und könnte sogar “sterben”.
Doch nicht nur die Person, auch die Politik wurde bei dieser Wahl abgestraft.
EU-Politik abgestraft
Die sie tragenden Parteien in Deutschland und Frankreich – den beiden größten EU-Ländern – haben eine historische Klatsche erhalten. Die Ampel-Regierung in Berlin liegt nur noch bei 27 Prozent, Macrons Liberale kommen nur noch auf klägliche 15 Prozent.
Wenn die EU eine funktionierende Demokratie wäre, müsste nun alles auf den Prüfstand – von der Migrationspolitik bis hin zur “unerschütterlichen” Unterstützung der Ukraine. Wenn das Parlament nicht schon alles abgesegnet hätte, wäre ein Kurswechsel fällig.
Doch die neuen EU-Abgeordneten machen einfach da weiter, wo die alten aufgehört haben – und führen genau jene Politik fort, die die Bürger gerade in vielen wichtigen EU-Ländern abgestraft haben. Die “Pro-EUropäer” freuen sich sogar darüber, dass sich nichts ändert.
Sie nennen es “die Demokratie retten”. In Wahrheit geht es um die Verteidigung eines unpopulären und zunehmend gefährlichen politischen Kurses, der Europa und die EU in eine existentielle Krise treiben könnte…
Dieser Beitrag ist zuerst in unserem Newsletter „Watchlist Europa“ erschienen. Mehr Newsletter und Abonnement per Mail hier. –Siehe auch Von diesem Schock wird sich EUropa nicht so schnell erholen und meine Analyse für die taz: “Die Hinterzimmerpolitik beginnt“
Kleopatra
13. Juni 2024 @ 10:46
Selbst wenn man die Versuche des Europäischen Parlaments, ein parlamentarisches System zu imitieren, ernst nimmt, folgt daraus nicht, dass UvdL nicht korrekterweise bei den Regierungen antichambrieren sollte. Im klassischen parlamentarischen Modell kann das Staatsoberhaupt (König, Präsident, in der EU tritt an ihre Stelle der Rat) den Regierungschef grundsätzlich nach Gutdünken frei ernennen, dieser ist aber für seine Amtsführung auf das Vertrauen des Parlaments angewiesen, das ihm im prototypischen parlamentarischen Modell jederzeit das Vertrauen entziehen kann. Der Regierungschef braucht hingegen weder eine Zustimmung der Mehrheit der Wähler, noch ist es relevant, ob er in seinem Herkunftsland bei einer Mehrheit der Wähler beliebt ist (ein Vetorecht des deutschen Volkes gegen die Besetzung der Kommissionsspitze findet sich nicht in den Verträgen).
Während der Legislaturperiode kann eine Kommission nur schwer gestürzt werden (es wäre eine Zweidrittelmehrheit des Parlaments nötig). Immerhin haben schon einmal Parlamentarier eine Kommission durch die Einleitung dieses Verfahrens zum Rücktritt gedrängt.
ebo
13. Juni 2024 @ 11:07
Das ist alles richtig. Allerdings ist die EU keine parlamentarische Demokratie, sondern ein hybrides Zweikammer-System, bei dem das Parlament und der Rat gemeinsam Demokratie spielen.
Im Parlament hat von der Leyen keine eigene Mehrheit. Im Rat sind gerade mehrere Länder in die Krise gerutscht – ich nenne nur Frankreich, Deutschland, Österreich und Belgien. All diese Länder haben eine zweite Amtszeit von der Leyens unterstützt (sie dürften es auch weiter tun), doch die Bürger haben bei der Europawahl gegen sie entschieden.
Das ändert immer noch nichts daran, dass die CDU-Politikerin vermutlich bestätigt wird. Es untermauert aber meine These, dass es nicht dem Wählerwillen entspricht – jedenfalls nicht in den wichtigsten EU-Ländern.
Das europäische Demokratie-Defizit ist größer denn je, im Grunde agiert die EU längst im Bereich der Post-Demokratie bzw. Technokratie. Leider hat die Politikwissenschaft immer noch nicht die passenden Modelle entwickelt…
Arthur Dent
12. Juni 2024 @ 21:29
@Skyjumper
die INSM ist aber kein humanistischer Bildungsverein, sondern eine Wirtschaftsorganisation. Hier werden sicher keine hehren Bildungsziele verfolgt, sondern der Beitrag des Humankapitals zu Wachstum und Produktivität.
Skyjumper
13. Juni 2024 @ 13:53
Moin @Arthur Dent
das stimmt natürlich. Für meine Aussage ist die Quelle aber relativ bedeutungslos. Zum einen ist es für mein Verständnis nicht so entscheident ob es sich hier nun um eine öffentlich-rechtliche Quelle handelt. Das Rohmaterial stammt immer aus öffentlichen Erhebungen, lediglich die Wertung erfolgt durch ein wirtschaftsnahes Institut. Und auch die Wirtschaft hat kein gravierendes Interesse das Ranking der Bundesländer zu manipulieren. (Hinsichtlih anderer Auswertungsaspekte wäre ich da nicht so unbedacht)
Zum anderen, und das ist das entscheidene, 2 östliche Bundesländer liegen am einen Ende, die anderen 3 am entgegengesetzten Ende der Skala. Das Wahlverhalten ist also offenkundig gerade nicht davon abhängig an welchen Ende man liegt.
Wenn man sich dann vom offenkundigen lösen möchte um einmal genauer hinzusehen, gäbe es sicherlich noch vieleweitere Details die man betrachten müsste (Altersstruktur etc.). Aber das ist dann bereits etwas was Herr Kühnert garantiert NICHT gemacht hat bevor er seine wilde Aussage rausblökte.
Arthur Dent
12. Juni 2024 @ 16:01
@european
Ich mag den Vorsitzenden der Atlantik-Brücke & Mitglied der Trilateralen Kommission auch nicht – mir sind solche „Globalisten“ suspekt.
Tja, wer eine von der blütenweiß-demokratischen Union abweichende Meinung hat, ist ein universal-extremistischer Verdachtsfall.
Viele Politiker treten auch als Lebensberater auf: Sie erteilen dem Volk gerne Dusch-, Heizungs- und Ernährungs-Tipps. Klären uns darüber auf, auf welche Autos wir in Zukunft verzichten sollen und das sich in Ost-Deutschland prima urlauben lässt. Es ist an der Zeit, diesen Demokraten zu danken.
Helmut Höft
12. Juni 2024 @ 11:14
ebo in der taz: „Die berüchtigten Hinterzimmer in Brüssel sind wieder gefragt – doch diesmal spielt die Musik auch in Rom und Paris, wo die Rechten und Rechtsextremen versuchen, ihre Wahlerfolge in EU-Politik umzumünzen. … Allerdings waren es Weber und von der Leyen, die vor der Wahl offen mit Meloni und der rechtspopulistischen EKR geflirtet haben. “
Hach, Neusprech kann so schön sein: Es wird nicht mehr „antichambriert“ jetzt, neu, es wird „derrièrchambriert“! Isset nedd schee?
„Die Wähler können das Ergebnis nicht mehr beeinflussen.“ Wähler? Werden überschätzt. Nicht Wähler jund Wahlergebnisse zählen, Politik zählt! 🙁
exKK
12. Juni 2024 @ 12:59
Sorry, eigene Kommentare gehen nach wie vor von hier aus nicht:
„Geritzt ist die zweite Amtszeit noch nicht, zumal die Kommissionsspitze gern mit anderen Personalfragen verknüpft wird.“
Ich kann mir nicht helfen – seit einiger Zeit habe ich immer wieder Freudsche Verleser und lese oft statt Kommissionsspitze das Wort „Korruptionsspitze“.
Das erschwert meine Lektüre über die EU erheblich – die Wahl hat daran auch nichts geändert.
european
12. Juni 2024 @ 10:59
Wenn man den Spitzenpolitikern genau zuhoert, dann retten sie ja nicht DIE Demokratie, sondern immer nur UNSERE Demokratie. Eine Feinheit in der Wortwahl, die es in sich hat. Denn es geht tatsaechlich um deren Vorstellung von Demokratie, die sie oben haelt, die anderen unten, den Souveraen missachtet und ein Weiter-So ermoeglicht. Dazu werden eben jede Menge Brandmauern benoetigt. Merz will sogar jetzt zwei Brandmauern errichten, eine gegen die AfD, die andere gegen das BSW. Sollte also noch jemand eine Brandmauer irgendwo in der Garage herumliegen haben. Merz braucht noch eine. Eine politische Klasse, die aber soviele Wagenburgen braucht, fuehlt sich offensichtlich bedroht. Sie scheint auch nicht zu merken, dass es eben ihre Politik ist, die die Waehler in Scharen zu den vermeintlich Boesen treibt. Da helfen auch die absurden Gegen-Rechts-Demonstrationen nichts. Diese Politik wurde nun abgewatscht, aber von selbstkritischer Analyse ist nichts zu sehen oder zu hoeren. War was?
Die Kommentare dieser Politiker treiben im Moment seltsame Blueten. So liess sich Kevin Kuehnert, noch ein Mann ohne abgeschlossene Ausbildung, dazu hinreissen, das Wahlverhalten im Osten mit „mangelnder Bildung“ zu begruenden. Das wird die Waehler ueberzeugen, um beim naechsten Mal der SPD ihr Kreuzchen zu machen. Auch die Gruenen sind aus allen Wolken gefallen. In ihrer Bubble war doch alles in Ordnung. Wie koennen da die Waehler nach „rechts“ driften?
Aehnliches koennen wir auch auf EU Ebene beobachten. Manfred Weber kuesst von der Leyen die Fuesse und zollt ihr ewige Dankbarkeit dafuer, dass sie ihm vorgezogen wurde. So funktioniert eben „unsere Demokratie“ 😉
Merz geriert sich als Gewinner und lobpreist auch die EUCO-Praesidentin, mit der man als Spitzenkandidatin einen erfolgreichen Wahlkampf bestritten habe.
Man wartet auf den Moment in dem dieses Kartenhaus in sich zusammenfaellt.
ebo
12. Juni 2024 @ 11:03
Von Kühnert stammt auch das Wort von der „Kontaktschande“. Damit meint er die Grünen, die die SPD bei der Europawahl angeblich nach unten gezogen haben. Wie weit kann ein ehemaliger Juso-Chef noch sinken?
european
12. Juni 2024 @ 11:18
Kevin Kuehnert wird m.E. als der schnellste politische Wendehals in die Geschichte eingehen. Vom rebellischen Juso-Vorsitzenden zum angepasstesten und stromlinienfoermigsten Parteisoldaten ever.
Ich mag Sigmar Gabriel nicht, aber vielleicht hatte er seinerzeit recht, als er Kuehnert riet, doch erst einmal seine Ausbildung zu beenden, um unabhaengig zu sein.
exKK
12. Juni 2024 @ 12:53
Der neue Kevin Kühnert hat in den paar Minuten, die ich ihn vor einigen Tagen im TV gehört habe, wie ein gehirngewaschener Freigelassener aus einer Umerziehungsanstalt geklungen.
Skyjumper
12. Juni 2024 @ 14:06
“ So liess sich Kevin Kuehnert, noch ein Mann ohne abgeschlossene Ausbildung, dazu hinreissen, das Wahlverhalten im Osten mit “mangelnder Bildung” zu begruenden. “
Wo der gute Kevin Recht hat, hat er Recht. Das beste Wahlergebnis auf Bundeslandebene hatte die AFD in Sachsen. Das zweitbeste in Thüringen. Ganz ähnlich sieht es mit den Wahlergebnissen beim BSW aus.
Und nun rate ich allen Skeptikern einen Blick in den deutschen Bildungsmonitor 2023 (oder auch die Jahre davor) an. Siehe u.a. hier:
https://www.insm-bildungsmonitor.de/
Für die Klick-Faulen: An erster Stelle – und das meint den besten Bildungsstand – hält sich hartnäckig Sachsen. An Position 3 liegt dann Thüringen. Joo! Dat Kevin hat Recht …. und das ganz ohne Chantalle gefragt zu haben.
Und für die Aufmerksamen: Das ist natürlich ziemlicher Quatsch. Denn Meck-Pom, Sachsen-Anhalt und Brandenburg liegen ziemlich weit am Ende im Bildungsmonitor.