Unruhen in Frankreich: “Probleme von 2005 sind immer noch da”

Was steckt hinter den Unruhen in Frankreich? Der französische Soziologe O. Galland glaubt, dass die zugrunde liegenden Probleme seit den Krawallen 2005 nicht gelöst wurden – es kamen sogar noch mehr dazu.

Hier Auszüge aus Gallands Text auf “telos” (frei übersetzt und gekürzt):

  • Der Hass auf die Polizei: In der Untersuchung, die wir nach den Ereignissen von 2005 im Auftrag des Centre d’analyse stratégique mit einigen Kollegen in Aulnay-sous-Bois durchgeführt hatten, erschien uns dieses Element von zentraler Bedeutung. “Hass” ist ein starkes Wort, aber es ist angemessen. Der Kontext in diesen Vierteln ist der einer allgemeinen Feindseligkeit der Jugendlichen gegenüber der Polizei. Wenn tragische Ereignisse wie der Tod von Zyed und Bouna nach einer Verfolgungsjagd mit der Polizei in Clichy-sous-Bois eintreten, verwandelt sich diese Feindseligkeit in Hass. Heute ist das Szenario das gleiche. Was sind die Gründe dafür? Sie sind vielfältig.
  • Jeder weiß, dass in diesen Vierteln eine Parallelwirtschaft (ein Euphemismus für kriminelle Aktivitäten) gedeiht. Sébastian Roché hatte dies in seiner Studie über “les adolescents et la loi” in Bouches du Rhône (2016) gut dokumentiert. Die Polizei greift also ein, um diese delinquenten Aktivitäten zu unterdrücken oder zumindest ihre Ausweitung zu kontrollieren – mit mehr oder weniger Erfolg. Dieser Kontext hat zwei Konsequenzen. Erstens führt er unweigerlich zu Spannungen zwischen den Jugendlichen und der Polizei, da die Polizei hier häufiger als anderswo eingreift und kontrolliert. Viele Jugendliche werden kontrolliert, selbst diejenigen, die nicht an der Schattenwirtschaft beteiligt sind. Dies ist eine Form der statistischen Diskriminierung (jeder Jugendliche ist ein potenzieller Verdächtiger), die ein Gefühl der Ächtung schürt, auf das ich später noch zurückkommen werde.
  • Die zweite Folge ist die Verbreitung einer abweichenden Kultur. In einem Viertel zu leben, in dem kriminelle Aktivitäten zum Alltag gehören, kann zwei Arten von Reaktionen hervorrufen: entweder Exit, also Flucht, oder Loyalität, ein Gefühl der Loyalität, der Solidarität, um Albert Hirschmans berühmte Analyse (1970) aufzugreifen. Diejenigen, die sich für den Exit entscheiden (wir hatten sie bei unserer Untersuchung in Aulnay-sous-Bois getroffen), haben nur einen Gedanken im Kopf: Sie wollen aus diesen krankmachenden Vierteln fliehen, in denen der Erfolg außerhalb der Schattenwirtschaft äußerst problematisch ist. Diejenigen, die sich für die Loyalität entscheiden, verurteilen ihre Mitschüler, die sich dem Drogenhandel widmen, nicht (auch wenn sie es nicht tun). Es kommt schließlich zu einer Art einheimischer Theorie der relativen Frustration. Um zu überleben, gibt es keine andere Möglichkeit, als sich dem Gesetz zu widersetzen. In unserer Umfrage in Aulnay äußerten sich viele Jugendliche auf diese Weise, ohne sich zu schämen und ohne das Gefühl zu haben, provoziert zu werden.
  • Das Gefühl der kollektiven Ausgrenzung. Dieses Gefühl beruht auf der Vorstellung, dass die Gruppe, der man angehört (ethnisch oder religiös), als Ganzes von der Aufnahmegesellschaft ausgegrenzt wird. Dieses Gefühl ist unter Jugendlichen mit ausländischer Herkunft oder muslimischem Glauben deutlich weiter verbreitet als unter anderen Jugendlichen. 20 % der Erstgenannten (in Frankreich als Sohn zweier ausländischer Eltern geboren) und 23 % der Letzteren (muslimischen Glaubens) stimmen der sehr spaltenden Aussage voll und ganz zu, dass “Gesellschaften, die als Ausländer in Frankreich geboren wurden, in der Lage sind, sich von der Gesellschaft zu distanzieren”.
  • Die Banalisierung der Gewalt. Steven Pinker vertritt in seinem berühmten Buch über die Geschichte der Gewalt überzeugend die These, dass langfristig in der Geschichte der Menschheit die Gewalt stark zurückgegangen ist, insbesondere mit dem Aufkommen von Staaten, die das Monopol der legitimen Gewalt für sich beanspruchen konnten und so die private Gewalt, die Vendettas und die Racheakte zurückdrängten. Diese These ist überzeugend, aber in der Geschichte der Gewalt kann es immer wieder zu Erschütterungen kommen. Es ist schwer zu beweisen, dass die kollektive Gewalt zugenommen hat (man sieht beispielsweise in der Entwicklung der Kriminalität keine wirklichen Anzeichen dafür), aber man hat das Gefühl, dass bestimmte Formen der Gewalt, bei denen es sich nicht um kriminelle Gewalt, sondern um grundlose Gewalt mit nihilistischem Unterton handelt, banalisiert werden und tendenziell eher toleriert werden. In dieser Hinsicht hat die Gelbwesten-Bewegung vielleicht zu einer Form der Enthemmung beigetragen.
  • Die Mängel des Schulsystems. Dies ist ein Punkt, den ich in diesen Kolumnen schon oft angesprochen habe. Die Schule hat bei ihrer Integrationsaufgabe teilweise versagt. Sie ist auf einem vermeintlich universellen Modell erstarrt, das aber in Wirklichkeit Ungleichheit produziert, indem es einheitliche Rezepte auf eine sozial und kulturell immer stärker diversifizierte Öffentlichkeit anwendet. Andererseits hat die Schule die Aufgabe der republikanischen Integration vernachlässigt: Der Moral- und Staatsbürgerkundeunterricht, der eine gute Idee war, wurde nicht wirklich oder nur improvisiert umgesetzt.

Zwei große neue Probleme

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Achtzehn Jahre nach den Unruhen von 2005 kommen zwei neue Elemente hinzu. Das eine ist die wachsende Rolle der (a)sozialen Medien. Staatschef Macron hat darauf hingeweisen und offenbar auch versucht, sie zu begrenzen – z.B. bei SnapChat oder Twitter.

Das andere ist der politische Kontext, wie Galland vorsichtig schreibt. Er meint dabei vor allem den Verfall des politischen Diskurses (“Hysterisierung”) und den apolitischen, wenn nicht antipolitischen Charakter der Unruhen.

Ich würde es anders formulieren: Frankreich hat seit 2005 den kompletten Zusammenbruch der etablierten politischen Parteien erlebt. Macron war und ist die letzte “Barriere” gegen die Nationalisten um M. Le Pen.

Doch seit seiner Rentenreform, die am Parlament und den Gewerkschaften vorbei durchgepeitscht wurde, genießt auch Macron keine politische Autorität mehr. Frankreich erlebt eine Systemkrise – das macht die Unruhen umso gefährlicher…

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P.S. Die “Süddeutsche” schreibt immer noch von “Unruhen in den Banlieues”. Doch darum geht es längst nicht mehr. Der Auslöser kam diesmal aus Nanterre, einem aufstrebenden Vorort von Paris mit großer Universität. Die Unruhen haben auch die Innenstädte erfasst, sogar die Champs-Elysées in Paris waren Ziel der Randalierer und Plünderer. Mit “Banlieues” hat das alles nicht mehr viel zu tun, désolé…