Neues Zentrum zum Ukraine-Krieg: Gerechtigkeit ohne Richter?
Die EU-Justizbehörde Eurojust hat zusammen mit Partnern in Den Haag ein internationales Strafverfolgungszentrum eröffnet. Dort sollen Beweise speziell zur Verfolgung russischer “Aggression” gesammelt und gezielt Anklagen gegen mutmaßliche Täter vorbereitet werden. Doch auf welcher Grundlage?
“Wir werden nichts unversucht lassen, um Putin und seine Handlanger zur Rechenschaft zu ziehen”, sagte EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen. Das neue Zentrum werde eine Schlüsselrolle dabei spielen, dass die Täter auch wegen des Verbrechens der Aggression vor Gericht gestellt werden können.
Bisher gibt es dafür allerdings keine Grundlage im internationalen Recht. Auch das EU-Recht gibt das nicht her. Die europäische Justizbehörde Eurojust ist zwar führend beteiligt; sie verschafft dem neuen Zentrum eine institutionelle Basis. Doch ihr Auftrag will dazu nicht passen.
Eurojust gründet sich auf Artikel 85 Art. 4 des Lissabon-Vertrags. Dort ist allerdings nirgendwo von der Verfolgung von Verbrechen in aller Welt die Rede. Im Gegenteil: Die juristische Zusammenarbeit bezieht sich ausdrücklich auf “ernste Verbrechen” in “zwei oder mehr Mitgliedstaaten“.
Eurojust’s mission shall be to support and strengthen coordination and cooperation between national investigating and prosecuting authorities in relation to serious crime affecting two or more Member States or requiring a prosecution on common bases, on the basis of operations conducted and information supplied by the Member States’ authorities and by Europol.
Quelle: Article 85 in Chapter 4 of the Treaty of Lisbon / Eurojust
Russland passt nicht zu dieser Definition. Die Ukraine auch nicht – denn sie ist nunmal noch kein EU-Mitglied. Die EU und ihre Kommissionspräsidentin übergeht bzw überdehnt mal wieder ihre eigenen Regeln. Dies ist jedoch nicht das einzige Problem.
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Für das bzw. die Verbrechen der “Aggression” gibt es bisher nämlich noch nicht einmal ein Gericht, geschweige denn Richter! Eurojust ist für Angriffskriege ebenso wenig zuständig wie der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag.
Und das ist noch nicht alles: Wie ein solches Gericht aussehen könnte, ist sogar zwischen den EU-Staaten und der Ukraine umstritten! Die EU ermittelt nun also für Verbrechen, für die es weder ein Gericht noch Richter gibt.
Nur der Schuldige steht offenbar schon fest – von der Leyen hat ihn ja beim Namen genannt und sich somit selbst zur Richterin aufgeschwungen…
Mehr zum Krieg in der Ukraine hier
KK
5. Juli 2023 @ 00:19
@ Thomas Damrau:
„Der erste Nürnberger Prozess wurde gegen die Top-Funktionäre eines besiegten Regimes geführt.“
Sehr richtig – und zwar von einer Gruppe von alliierten Siegern, die einen Blutzoll für dieses Privileg gezahlt haben.
Hier sind doch eher die treibenden Kräfte die Waffenhändler und Eskalateure, die diese Institution nur als weiteres Mittel zur Durchsetzung ihrer speziellen Interessen gegen Russland missbrauchen wollen. Nachdem sie selbst diesen Krieg wenn nicht vorsätzlich provoziert so doch zumindest billigend in Kauf genommen haben, indem russische Sicherheitsinteressen entgegen den Bestimmungen diverser internationaler Verträge wie zB OSZE negiert worden sind – und weiterhin werden.
Thomas Damrau
4. Juli 2023 @ 20:25
@Kleopatra
Beweise zu sammeln, ist jedem jederzeit möglich. Und meines Wissens wurden seit Beginn des Krieges Beweise für Verstöße gegen Kriegs- und Völkerrecht gesammelt. Wenn die EU nun Bedarf für eine Behörde sieht, die das Sammeln von Beweisen koordiniert und systematisiert, soll sie eine solche Behörde einsetzen.
Wenn allerdings die Vorbereitung von Anklagen verkündet wird, stellen sich die Fragen
– nach welchem Recht
– vor welchem Gericht
Hier wird eine Strafverfolgungsbehörde ohne rechtlichen Rahmen angekündigt.
Und auch der Verweis auf die Nürnberger Prozesse und den Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien hilft erst mal nicht weiter:
– Der erste Nürnberger Prozess wurde gegen die Top-Funktionäre eines besiegten Regimes geführt. Das ist im Augenblick Zukunftsmusik.
– Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien wurde durch eine Resolution des UN-Sicherheitsrates eingerichtet. Etwas Ähnliches ist für den Ukraine-Krieg nicht zu erwarten.
Wer jetzt die Backen aufbläst und so tut, als habe er einen Weg gefunden, “Putin und seine Handlanger zur Rechenschaft zu ziehen”, dribbelt mal wieder für den Fan-Block. Und veralbert rechtsstaatliche Prozesse.
KK
4. Juli 2023 @ 13:12
“Doch auf welcher Grundlage?”
Hybris!
european
4. Juli 2023 @ 10:20
Gefuehltes Recht hatten wir schon mal. Es nannte sich gesundes Volksempfinden, floss in die „Rechtsprechung“ ein und ist uns ganz schlecht bekommen. Die EU-Aussenstellen us-amerikanischer Kriegspolitik fuehren das gerade wieder ein. Rechtsprechung ohne Rechtsgrundlagen und schon gar nicht gueltig fuer alle und nur, weil wir das so „empfinden“.
Aehnliches koennen wir aktuell in Deutschland beobachten, wo die Gruenen, auch US-Trabanten, eine Meldestelle fuer Nichtverbrechen eingefuehrt haben. Eine Meldestelle fuer Verbrechen haben wir ja. Nennt sich Polizei. Diese Meldestelle fuer Nichtverbrechen nennt sich Amadeu Antonio Stiftung, wo man antifeministische „Vergehen“ melden soll. Es sind schon hunderte „Vergehen“ gemeldet worden. Was soll eigentlich mit den Daten passieren?
Gleichzeitig tingeln wir durch die Welt und behaupten, wir traeten fuer Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und natuerlich Frauenfoerderung ein. Mehr Scheinheiligkeit ist nicht mehr auszuhalten.
Die Covid-Massnahmen haben das Denunziantentum wieder gross werden lassen. Jeder Fehltritt sollte gemeldet werden. Einzelne Buerger auf Parkbaenken wurden angezeigt und von der Polizei gejagt. Die USA, resp. Homeland Security, haben vor einigen Jahren ein solches Experiment zur Terroristenbekaempfung durchgefuehrt: If you see something, say something.
Es hat dazu gefuehrt, dass tausende unschuldiger Buerger wegen Nichtigkeiten angezeigt wurden. Das gegenseitige Beschnueffeln hatte Hochkonjunktur. Jeder Buerger ein Detektiv.
Rechtsprechung macht nur Sinn, wenn sie fuer alle gilt. Wenn also Putin als Kriegsverbrecher vor Gericht gestellt werden sollte, dann bitte auch alle noch lebenden US Praesidenten und Vizepraesidenten. An allen klebt meterdickes Blut. Aber da das nicht passieren wird, wird jeder Versuch, eine laenderuebergreifende Rechtsprechung einzufuehren, im Keim erstickt.
Kleopatra
4. Juli 2023 @ 10:09
@ebo: Von einer Anklageerhebung ist nach meinem Eindruck nicht die Rede, und ermitteln kann man doch immer; die einzige Voraussetzung für Ermittlungen ist ein Hinweis, dass eine Straftat begangen wurde. Die EU war schon deshalb immer Partei, weil sie mit der Ukraine einen Assoziierungsvertrag hat und weil Russland genau diese EU-Assoziierung nicht passt. Der ICC ist übrigens durchaus für das Verbrechen des Angriffskriegs zuständig, allerdings nur bei Unterzeichnerstaaten des einschlägigen Protokolls; bei Nichtunterzeichnerstaaten muss man für die Strafbarkeit wohl auf das Völkergewohnheitsrecht zurückgreifen.
Als möglichen Partner für Verhandlungen hat sich die gegenwärtige russische Führung durch das Verhalten ihrer Armee in den besetzten Gebieten (und durch das Gutheißen dieses Verhaltens) bereits im letzten Frühjahr selbst verbrannt, und nach allem, was sich Russland in den letzten Monaten geleistet hat, bis hin zum Kachowka-Staudamm, erst recht.
ebo
4. Juli 2023 @ 13:24
Nicht mal Kiew und Washington sind sich einig https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/ukraine-gegen-usa-streit-ueber-tribunal-zu-russlands-krieg-19007781.html
Kleopatra
4. Juli 2023 @ 09:22
Die einschlägigen Präzedenzfälle sind die Nürnberger Prozesse und der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien. Insbesondere bei den ersteren war das Verbrechen des Angriffskrieges ein Thema, als Grundlage diente u.a. der Briand-Kellogg-Pakt von 1928.
Natürlich muss in allen Fällen der Angeklagte erstmal in die Macht des Gerichtshofs gebracht werden, aber das ist kein Grund, nicht bereits jetzt Informationen und Beweismittel zu sammeln und sich zu überlegen, ob es für eine Strafverfolgung eine rechtliche Grundlage gibt. Beweismittel findet man am leichtesten, wenn man zeitnah vorgeht.
Auch etwa der Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen Putin und Lwowa-Belowa wegen der Verschleppung ukrainischer Kinder scheint positive Auswirkungen zu haben: anscheinend ist das Interesse von Russen, entführte ukrainische Kinder zu adoptieren (und damit am Verbrechen des Völkermordes mitzuwirken), nach diesen Haftbefehlen rapide zurückgegangen. Die Aussicht, womöglich auch nach Ende des Krieges nie mehr z.B. in den Alpen Schifahren gehen zu können (weil man auf jeder touristischen Reise eine Verhaftung und vieljährige Haftstrafe riskiert), wirkt offenbar auf viele Russen abschreckend, und das soll sie auch tun. (Siehe https://www.derstandard.at/story/3000000177226/)
ebo
4. Juli 2023 @ 09:34
Nein, die EU schafft hier einen Präzedenzfall. Denn es ist das erste Mal, dass noch vor Ende eines Krieges wegen Kriegsverbrechen ermittelt und angeklagt wird. Eurojust ist dafür offensichtlich nicht zuständig, ebenso wenig wie der ICC.
Im übrigen verbaut die EU mit ihrem übereilten Vorgehen und der Vorverurteilung die Möglichkeit für Verhandlungen. Selbst wenn diese eines Tages stattfinden sollten, wären EU-Vertreter “verbrannt” – sie sind eindeutig Partei.
Der politische Schaden, der durch diese Vorgehensweise entsteht, ist meines Ermessens viel größer als der (mögliche, aber längst nicht erwiesene) rechtliche Nutzen! Dies gilt insbesondere im globalen Süden.
Denn dort hat man nun den Beweis, dass die EU mit zweierlei, ja dreierlei Maß vorgeht. Gegen die USA wird gar nicht ermittelt, zum ICC kommen fast nur afrikanische Führer. Und für Russland schafft man ein Sondergericht!
Ales
4. Juli 2023 @ 07:13
Realität war noch nie ein Hindernis für Ursula von der Leyen. Aber ich bin auch sicher, dass die russische Seite bereits Jahre vor dem unmittelbaren Krieg begonnen hatte, ähnliche Daten über die Gegenseite zu sammeln. Am Ende ist es dann alles Narrativ-Munition, mit der man sich gegenseitig bewerfen wird, wenn die heiße Phase des Krieges abzukühlen droht. Und jeder wird zu jedem Zeitpunkt wissen, dass beide Seiten Gräuel begangen haben – schuld wird aber nur die Gegenseite sein. Ein mediales Possentheater ohne die geringste moralische Überlegenheit. Aber das ließe sich grundsätzlich über von der Leyens politische Laufbahn sagen.
Thomas Damrau
4. Juli 2023 @ 06:54
Über Kriegsverbrecher-Prozesse sollte man sich nach einer (vollständigen) Niederlage des Gegners Gedanken machen – siehe Nürnberger Prozesse.
Im Augenblick geht es mal wieder ums Symbolische: Der Durchhaltewille der EU-Bevölkerung muss durch die Botschaft „ein im Osten lauert das Böse – das sehen sogar die Gerichte so“ gestärkt werden.
Da keine der beteiligten Hauptakteure (Russland, Ukraine, USA) den ICC anerkennen und die Zuständigkeit des ICC enge Grenzen hat, bedarf es eben eines neuen Gerichts.
PS: Wer sich für Polit-Thriller und das Thema ICC interessiert, sollte Marc Elsbergs „Der Fall des Präsidenten“ lesen. In diesem Buch wird durchgespielt, wie schwierig es wäre, einen ehemaligen amerikanischen Präsidenten (gemeint ist Trump) wegen Drohnen-Angriffen mit „gewollten menschlichen Kollateralschäden“ in Afghanistan vor den ICC zu bringen.