Ukraine-Krieg: USA erwägen Verhandlungen – und sorgen sich um die EU
Im Westen was Neues: Die USA bereiten sich nach einem Bericht der “New York Times” auf Verhandlungen für eine Lösung des Ukrainekonflikts vor. Sorgen macht man sich in Washington um die EU.
Wenn es um Krieg geht, dann sind die Militärs oft realistischer als die Politiker. Dies zeigt sich auch jetzt wieder im Ukrainekonflikt. Gen. Mark A. Milley, der Chairman of the Joint Chiefs of Staff, geht davon aus, dass die Ukraine militärisch alles erreicht hat, was erreichbar war – und fordert die USA deshalb zu Verhandlungen auf.
“We’ve seen the Ukrainian military fight the Russian military to a standstill,” he said. “Now, what the future holds is not known with any degree of certainty, but we think there are some possibilities here for some diplomatic solutions.”
The New York Times
Der ukrainische Erfolg in Cherson markiert aus Sicht des US-Generals eine Wende, die für diplomatische Lösungen genutzt werden kann. Denn was danach kommt, sei angesichts des nahenden Winters ungewiß.
Im Weißen Haus ist man von diesem pragmatischen, militärisch fundierten Ansatz offenbar nicht begeistert. US-Sicherheitsberater Jake Sullivan, der erst kürzlich in Kiew war, steht laut “New York Times” auf der Bremse.
Eine mögliche Erklärung ist, dass sich Kiew jeder Verhandlungslösung verweigert – und man sich in Washington zunehmend Sorgen um die Haltung der EUropäer macht. Dies berichtet jedenfalls die US-Ausgabe von “Politico”.
American officials based in Europe are issuing internal warnings to Washington colleagues that some countries with populations that support Russia are growing angry over sanctions and blame the U.S. for rising costs. That sentiment could put pressure on European leaders to pull back support for the sanctions, officials said in internal reports circulated throughout the administration in recent days.
Politico
Tatsächlich wächst in der EU der Unmut über die Sanktionen, die auf Europa zurückschlagen. Gerade erst musste die EU-Kommission einräumen, dass eine Winterrezession droht.
In Tschechien, das derzeit den EU-Vorsitz innehat, gab es bereits mehrere große Demonstrationen gegen die Sanktionspolitik. Ungarn hat angekündigt, keine weiteren Strafmaßnahmen mitzutragen.
Der Unmut richtet sich bisher aber weniger gegen die USA oder die Ukraine, sondern vor allem auf Brüssel. In der EU-Kapitale hält man unbeirrt am Wirtschaftskrieg gegen Russland fest.
Gleichzeitig lässt die EU jeden Appetit für eine diplomatische Lösung vermissen. Beim nächsten Treffen der EU-Außenminister am Montag steht das Thema Verhandlungen nicht einmal auf der Tagesordnung.
Vielleicht sollte General Milley einmal nach Brüssel reisen, um die EU-Politiker über die militärische Lage zu “briefen”. Davon haben sie nämlich keine Ahnung; meist stützen sie sich auf chronisch unzuverlässige britische Geheimdienstberichte…
Mehr zum Ukrainekrieg hier
Tobias
14. November 2022 @ 14:45
Es scheint mir falsch, zu behaupten, die unilateralen Sanktionen durch die EU und die USA sind völkerrechtswidrig (siehe Bundestagsgutachten oben). Unilaterale Sanktionen scheinen legitim, wenn sie verhältnismäßig sind. Wirtschaftssanktionen, die, wie hier oft zu lesen ist, eh viel zu stark der EU selbst und Russland eh nicht richtig schaden, sind gegenüber einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands auf jeden Fall verhältnismäßig. Gar keine Reaktion auf diese grobe Verletzung des Völkerrechts durch Russland erscheint mir auch nicht im Sinne des Völkerrechts zu sein. Da eine Sanktionierung durch den Sicherheitsrat nicht möglich ist, weil Russland da drin sitzt, ist ja klar, darf aber im Sinne des Völkerrechts nicht bedeuten, dass Sicherheitsratsmitglieder bei Brüchen des Völkerrechts automatisch unantastbar sein sollen. Von daher erscheinen die unilateralen Sanktionen gegen Russland durchaus im Sinne des Völkerrechts zu sein. Dieses Verständnis passt halt nicht so ins antiimerialistische Deutungsmuster, welches sich immer stärker mit rechtsradikalen Verschwörungsideen anreichert (z.B. die USA wolle die deutsche Industrie zerstören um seine Dominanz weiter zu festigen.).
ebo
14. November 2022 @ 18:03
Es geht nicht nur um Legitimität, sonder auch um Legalität. Das ist nicht dasselbe.
In Brüssel wird z.B. gerade diskutiert, ob es legal wäre, das russische Zentalbankvermögen zu vereinnahmen. Legitim finden das viele, legal nur sehr wenige. Deshalb ist es bisher auch noch nicht geschehen.
Außerhalb von Brüssel und Washington herrscht die Ansicht vor, dass die Sanktionen weder legal noch legitim seien. Deshalb hat sich die Mehrheit der Staaten auch nicht angeschlossen.
Arthur Dent
12. November 2022 @ 23:04
Who rules the world? Im Ukraine-Konflikt geht es um Einfluss-Sphären, darum, wer bestimmte Regionen beherrscht. Die Ukraine wird von rund 30-40 Staaten finanziell und mit Waffen unterstützt, hat jetzt im Grunde ein Patt erreicht. Je komplexer die Waffen, desto mehr muss man mit ihrem Umgang geübt sein (Operation verbundener Kräfte, ein operativ-taktisches Konzept der Gefechtsführung) – es könnte sein, dass es der Ukraine an Personal oder Ausbildung oder an beidem dafür fehlt. Russland ist bisher nicht so eingebrochen, wie gedacht. Die gegen Russland verhängten Sanktionen treffen z.B. auch afrikanische Länder. Ebenso ist Indien praktisch außer sich – will beim kommenden G-20 Gipfel das sicherlich „ansprechen“. Und Indien wird vom Westen ziemlich umworben.
KK
12. November 2022 @ 12:56
@ Monika e.a.:
Dass die USA und NAhTOd das Völkerrecht nicht mehr als Handlungsmaxime ansehen, sondern ihre eigenen Wert-Vorstellungen als darüberstehend erachten (insbesondere die USA glauben ja, das von Gott auserwählte Volk zu sein, das die Welt beherrschen soll), haben wir doch spätestens ab den 1990er Jahren auf dem Balkan gesehen. Die USA haben sich zwar auch vorher schon regelmässig in die inneren Angelegenheiten anderer Nationen eingemischt, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen, aber seit dem Eingreifen auf dem Balkan/Serbien haben sie ihre NAhTOd-Verbündeten offen dort mit hineingezogen.
Seitdem ist das Völkerrecht für diese Staaten nur noch relevant, wenn es den eigenen Interessen dient. Ansonsten wird es hemmungslos gebrochen. Und wenn andere wie Russland das jetzt als Blaupause hernehmen, wird mit wiederum völkerrechtswidrigen Sanktionen darauf reagiert.
Auch die Sanktionen der USA gegen ihren „Freund und Verbündeten“ Deutschland in Sachen NS2 – inklusive gegen Sanktionen gegen alle daran Beteiligten – kamen m.E. völkerrechtlich gesehen einer Kriegserklärung gleich.
Das Völkerrecht ist tot, mausetot! Nicht mehr als ein Possenspiel auf grosser Bühne.
Kleopatra
12. November 2022 @ 11:48
Verhandeln können weder die USA noch die EU, da sie keine Parteien im Krieg sind, sie können allenfalls vermitteln oder bei Austausch von Positionen mitwirken. Die offizielle russische Position, dass es sich nicht um einen Krieg handele, erschwert wiederum den Russen das Verhandeln, egal mit wem. (Russland führt in seiner eigenen Darstellung keinen Krieg gegen einen Gegner, sondern eine Art Polizeiaktion gegen eine abtrünnige Provinz. In dieser Vorstellungswelt kann es nur die bedingungslose und vollständige Unterwerfung des Gegners oder den eigenen Untergang geben; daher die immer wieder wiederholten absurden Phantasien, eine von Moskau in jeder Hinsicht unabhängige Ukraine bedeutete den Untergang Russlands).
Verhandeln setzt (die Idee ist nicht von mir) soweit Vertrauen in den Gegner voraus, dass man ihm vertraut, dass er eine Pause der Kampfhandlungen nicht nur zur Vorbereitung des nächsten Angriffs nutzen wird. Die russische Art der Kriegsführung, die vor Kriegsverbrechen und Völkermord nicht zurückschreckt, zerstört dieses Vertrauen bereits im Ansatz. Die noch im März bestehende grundsätzliche Verhandlungsbereitschaft der ukrainischen Seite war dementsprechend nach der Entdeckung der Kriegsverbrechen in Butscha (die dann auch noch von Putin belobigt wurden) zu Ende.
ebo
12. November 2022 @ 19:43
Die USA sagen der Ukraine, dass sie sich offen für Verhandlungen zeigen soll (wenn auch nur zum Schein) https://www.washingtonpost.com/national-security/2022/11/05/ukraine-russia-peace-negotiations/
US-Sicherheitsberater Sullivan “kommuniziert” mit dem Kreml https://www.bbc.com/news/world-us-canada-63551133
Die Biden Administration ist geteilter Meinung über Verhandlungen https://edition.cnn.com/2022/11/11/politics/ukraine-mark-milley-negotiations-biden-administration-debate/index.html
Das sagt wohl alles. Natürlich können die USA verhandeln, und selbstverständlich nehmen sie Einfluß auf Kiew. Nur die EU hält sich raus, vermutlich bremst sie (wie üblich)
Thomas Damrau
14. November 2022 @ 20:05
@Kleopatra: Dieser kategorische Prohibitiv hilft im Zweifelsfall nicht weiter.
Im Augenblick erwarten Selenskyj und (Teile der) EU, dass der Krieg durch eine Art Kapitulation Russlands beendet wird. Das mag so kommen – ist aber nicht das wahrscheinlichste Szenario. Was sich die Ukraine aus meiner Sicht nicht leisten kann, ist ein langjähriger Krieg: Ein Land, in dem Raketen einschlagen, ist weder für die EU noch für die US-Investoren attraktiv – da wird niemand Geld für den Wiederaufbau in die Hand nehmen.
Daher: Möglicherweise wird Selenskyj doch mit dem Teufel verhandeln müssen.
A propos Investoren: eine interessante Statistik zum Thema Land-Grabbing – zeigt, dass es auch um eine andere Art von “westlichen Werten” geht:
https://www.statista.com/chart/19044/countries-most-affected-by-land-grabs/
Stef
12. November 2022 @ 08:38
Betrachtet man die Interessenlage, ist der US-Wunsch nach Verhandlungen unglaubwürdig. Alles läuft für die USA in voller Übereinstimmung mit ihren strategischen Zielen. Die Europäer sollen ihre industrielle Basis an die USA verlieren, Check. Russland soll dauerhaft durch einen kräftezehrenden Krieg geschwächt werden, Check. Die Verbindungen zwischen Europa und Russland sollen dauerhaft gekappt werden, Check. Wo soll da ein echtes Interesse der USA an friedensgerichteten Verhandlungen liegen?
Das Ziel ist, den Krieg durch die Simulation von Verhandlungsbereitschaft weiter zu verlängern. Stellen wir uns auf ein Blamegame ein, das über den Winter dauert und im Frühjahr mit dem Abbruch aller Gespräche endet, „weil mit dem Russen kein Frieden zu machen ist“.
Mein Benchmark für ernsthafte Verhandlungsbereitschaft ist die unilaterale Aufhebung der Sanktionen durch uns. Sie Schaden vor allem Europa und Deutschland. Solanve das ausbleibt, gibt es keine Verhandlungsbereitschaft.
ebo
12. November 2022 @ 09:17
Das US-Militär sieht es offenbar anders. Es war vermutlich am Kampf um Cherson beteiligt und weiß, wie schwierig weitere Geländegewinne werden. Außerdem ist es auch in Taiwan und im Iran gefordert. Da macht man sich offenbar Sorgen: “This #Ukraine crisis that we’re in right now is just the warmup,” the commander of Stratcom said. “The big one is coming. And it isn’t going to be very long before we’re going to get tested in ways that we haven’t been tested a long time.”
Stef
12. November 2022 @ 10:05
Das bedeutet aber nicht, dass die USA Verhandlungen mit Frieden als Ziel wollen. Es bedeutet nur, dass sie sich ab jetzt besser schonen sollten für das Endspiel. Der Krieg kann auch mit europäischen Mitteln in die Länge gezogen werden.
Der Ball liegt im europäischen Feld. Der Krieg endet erst, wenn entweder die Europäer sich von den USA emanzipieren oder sie derart geplündert sind, dass es dann auch egal ist. Solange hier die Kräfte dominieren, die einen Krieg in Europa im US-Interesse durchsetzen, wird es weitergehen.
ebo
12. November 2022 @ 10:13
Ja, der Ball liegt im europäischen Feld. Doch hier in Brüssel sehe ich niemanden, der den Ball im Sinne von Diplomatie spielen wollte. Das europäische Interesse an einem schnellen Ende des Krieges und einer umfassenden Friedenslösung wird nicht einmal formuliert, geschweige denn adressiert.
Stef
12. November 2022 @ 11:15
Wir sind uns einig. Ich finde es wichtig deutlich herauszuarbeiten, dass wir derzeit in der EU eine politische Elite am Ruder haben, die sogar um den Preis von Selbstaufgabe und drastischer Schädigung Europas den US-Interessen konsequent den Vorzug geben. Dieses wird m. E. den innereuropäischen politischen Konflikt in den nächsten Jahren bis Jahrzehnten prägen. Und es ist nicht anzunehmen, dass die derzeitige EU-Machtelite Risiken für die eigene Position aus Rücksicht auf demokratische Spielregeln in Kauf nehmen würde. Das lässt mich wiederum davon ausgehen, dass wir in den nächsten Jahren noch drastischere Einschränkungen demokratischer Spielregeln und verfassungsmäßiger Rechte erleben werden, als wir sie schon heute in erschreckendem Ausmaß erleben. Vermutlich immer mit dem Argument der Abwehr von Extremisten, Populisten und vom “Feind” gesteuerten Kräften.
Menschen mit dem Wunsch nach demokratischen Veränderungen werden sich im mehrfachen Sinn warm anziehen und auf die Wahl zwischen Selbstaufgabe und sehr unbequemen und gefährlichen Wegen der Politikgestaltung einstellen müssen.
Monika
11. November 2022 @ 18:49
Ich würde gerne über die Völkerrechtswidrigkeit der Eu-Sanktionen lesen/aufgeklärt werden. Meines Wissens sind nur die Vereinten Nationen befugt, über existenzbedrohende Sanktionen gegen einzelne Staaten zu befinden. Was sich die USA und Europa gegen Russland, Iran, Kuba, und andere Staaten herausnehmen (USA noch zusätzlich andere Staaten durch Strafaktionen erpresst, wenn sie sich nicht an von USA verordneten Sanktionen beteiligen), dürfte von keinem Welthandelsrecht oder Völkerrecht gedeckt sein. Wie kann es zu so einem Versagen der Weltgemeinschaft kommen, dass diesen Praktiken nichts entgegengestellt wird?
ebo
11. November 2022 @ 18:53
Dazu hatten wir schon einen Beitrag, und zwar hier
Robert Fitzthum
12. November 2022 @ 08:12
Die Sanktionen, auch gegen China übrigens, sind völkerrechtswidrig.
Man kann daraus lernen, dass die USA und die EU eben nicht an der Einhaltung des Völkerrechts interessiert sind, sondern an derAufrechterhaltung der ‚rules based order‘. Und die rules, die die Aufgabe haben, die weltweite Vormacht der USA abzusichern, bestimmen die USA und ihr Fanklub.