Tunesien: Ein bizarres Team, ein bigotter Deal
Die EU und Tunesien haben sich auf die Grundzüge eines Migrations-Abkommens geeinigt. Doch die Einigung, die an den schmutzigen Türkei-Deal von 2016 erinnert, steht auf wackligen Füssen.
Die Vereinbarung soll die irreguläre Migration aus Tunesien bremsen und das autokratisch regierte Land wirtschaftlich stützen. Als Vorbild gilt der Türkei-Deal von 2016, der die Flüchtlingskrise vorübergehend beruhigte.
Allerdings hat der Tunesien-Deal mehrere Schwachstellen. So sind die Finanzhilfen, die die EU versprochen hat, von einem Abkommen mit dem IWF abhängig. Deshalb hängen Kredite von 900 Mio. Euro in der Luft.
Zudem ist das sog. “Team Europe”, das den Deal ausgehandelt hat, nicht repräsentativ. Neben EU-Chefin von der Leyen waren auch Italiens Regierungschefin Meloni und ihr niederländische Kollege Rutte dabei.
Rutte hat gerade die Mehrheit in Den Haag verloren und seinen Rücktritt angekündigt. Meloni führt in Rom eine rechtsradikale Koalition. Und von der Leyen wird in Brüssel von ihren eigenen Parteifreunden angefeindet!
Dieses bizarre Team hat in Tunesien mit autokratischen Politikern verhandelt, die unerwünschte Migranten in die Wüste schicken, wo ihnen der Hitzetod droht! Das Ergebnis sollen nun alle 27 EU-Staaten absegnen.
In normalen Zeiten wäre das undenkbar. Doch die Zeiten sind nicht normal. Die Bundesregierung hat bereits Unterstützung angekündigt. Innenministerin Faeser (SPD) war zuvor selbst zu Verhandlungen in Tunis.
Ein Sprecher des Auswärtigen Amts räumte immerhin ein, dass die Lage der Flüchtlinge in Tunesien Anlass zur Sorge gebe. Doch Verantwortung will Berlin nicht übernehmen – dafür sei Brüssel zuständig.
Wie bigott ist das denn?
Mehr zur Flüchtlingskrise hier
KK
18. Juli 2023 @ 17:10
@ Kleopatra:
„Die „Zuständigkeit“ von Regierungschefs willkürlich ausgewählter Mitgliedstaaten lässt sich in der Tat bezweifeln; die Zuständigkeit der Kommissionspräsidentin hingegen kaum…“
Die Selbstermächtigung der Kommissionspräsidentin in anderen, der EU gar nicht obliegenden Sachfragen allerdings auch nicht… so auch hier die Auswahl ihres „Triumvirats“. So unangenehm bis widerlich ich ihn auch finde, aber zu dem Gremium hätte allein aus Sacherwägungen auch Borrell gehört. Und Rutte hatte dort gar nichts zu suchen, Meloni als Repräsentantin des gerade von Tunesien aus aufbrechender Flüchtlinge vorrangiges Ziellandes hingegen schon (inwieweit eine rassistische Faschistin vor dem Hintergrund gebetsmühlenartig bemühter „europäischer Werte“ überhaupt bei dem Thema mitreden sollte lasse ich mal aussen vor).
Kleopatra
18. Juli 2023 @ 14:48
@ebo: Die „Zuständigkeit“ von Regierungschefs willkürlich ausgewählter Mitgliedstaaten lässt sich in der Tat bezweifeln; die Zuständigkeit der Kommissionspräsidentin hingegen kaum, und sie nimmt wohl ein Paar Staatenvertreter mit, weil sie davon ausgeht, dass das dann mehr Eindruck macht. Im Vergleich zu Merkel, die sich zu Verhandlungen im Namen der EU frech selbst ermächtigt hatte, ist diese Konstellation immerhin ein Fortschritt.
KK
18. Juli 2023 @ 11:31
@ european:
„Das Seltsame an diesen Diktatoren ist ja, dass sie gute Buddies sind, solange sie der westlichen Agenda folgen. Da spielt auch keine Rolle, ob sie kriminell sind, die Menschenrechte mit Fuessen treten oder Frauen unterdruecken.“
Oder Journalisten in seinen Botschaften zerstückeln und die Einzelteile dann in Koffern ausser fremden Landes bringen lassen… man darf gespannt sein, wie sich das Verhältnis zu den al-Sauds noch entwickeln wird – jetzt, wo sich das Land immer offener gegenüber China zeigt und den langen Konflikt mit Iran abgekühlt hat.
KK
18. Juli 2023 @ 11:16
“Rutte hat gerade die Mehrheit in Den Haag verloren…”
Und zwar genau WEGEN der EUropäischen Migrationspolitik; dass ausgerechnet er einer der drei Repräsentanten der EU in dieser Abmachung ist – und er sich nicht nach dem Verlust seiner Mehrheit genau wegen der EUropäischen Migrationspolitik von selbst aus diesem Triumvirat zurückzieht, das ist schon ein Affront gegenüber seinen Koalitionspartnern und auch der Demokratie!
“Wie bigott ist das denn?”
So bigott wie fast alles, was in der letzten Zeit aus Brüssel (und, nebenbei bemerkt, auch aus Berlin und vielen anderen EUropäischen Hauptstädten kommt) kommt.
@ Helmut Höft:
“UvdL …leidet ja an vielfach bewiesener…Unfähigkeit!”
Volle Zustimmung!
Der lebende Beweis, dass Einfluss und Ämter immer noch massgeblich von der Abstammung (und damit geerbter Netzwerke) beeinflusst werden können – und nicht von persönlicher Eignung und erbrachter Leistung abhängen müssen!
european
18. Juli 2023 @ 11:12
@Helmut
Seit dem ich die Buecher von Michael Lueders lese, die mehr als nur einen Einblick in mir fremde Kulturen geben, bin ich mit meinen Urteilen extrem vorsichtig geworden. In seinem Buch “Wer den Wind saet” erklaert er sehr einleuchtend, warum die Syrer trotz der verheerenden Zustaende mit uebern 90 Prozent Zustimmung sich wieder fuer Assad entschieden haben. Ja, er ist ein furchtbarer Diktator, aber trotz alledem bietet er der Bevoelkerung Bestaendigkeit und damit auch in gewissem Rahmen Sicherheit. Die “Rebellen”, die ja vom Westen nach allen Regeln der Kunst gefoerdert werden, bieten genau das eben nicht. Sie sind ein in sich zerstrittener Haufen unterschiedlicher Clans mit individuellem Machtstreben. Heisst also, ein Syrien ohne Assad wird zu einem zweiten Libyen. Chaos, Gewalt, wirtschaftliche und politische Unsicherheit.
Ja, Gaddafi war ein Diktator und sicherlich niemand, mit dem ich befreundet sein wollte. Trotzdem hat er in diesem Land einiges bewegt, z.B. durften auch Frauen die Universitaet besuchen, er hat ein grosses Wasserprojekt initiiiert, dass der ganzen Region Wassersicherheit gewaehrleistet haette. Die NATO hatte nichts besseres zu tun, als genau das zu bombardieren. Er hat fuer die Bevoelkerung ein Gesundheitssystem auf den Weg gebracht, das den Namen verdiente. All das macht aus ihm keinen Heiligen, aber man muss eben auch beruecksichtigen, dass in diesen Laendern unterschiedliche Clans nebeneinander agieren, was unwillkuerlich auch regelmaessige Machtkaempfe mit sich bringt und positive Veraenderungen extrem verlangsamen. Aktuell gerade in Libyen sehr gut zu beobachten.
Das Seltsame an diesen Diktatoren ist ja, dass sie gute Buddies sind, solange sie der westlichen Agenda folgen. Da spielt auch keine Rolle, ob sie kriminell sind, die Menschenrechte mit Fuessen treten oder Frauen unterdruecken. War bei Saddam Hussein auch so. Erst wenn sie sich gegen westliche Interessen stemmen oder sogar Bodenschaetze verstaatlichen, wachsen sie zu neuen Hitlern empor.
Aktuell darf man Mexiko beobachten. Obrador wird nicht muede, der USA zu untersagen, dass aufhoeren sollen, die rechtsradikalen Kraefte in Mexiko finanziell und materiell unterstuetzen. Obrador hat die Lithiumvorkommen gegen den erklaerten Willen Bidens verstaatlicht.
Es ist die Frage aller Fragen der USA: Wie kommen unsere Bodenschaetze in euren Boden? 😉
Stef
18. Juli 2023 @ 11:06
Die in der Tagesschau gestern gezeigte Unterzeichnungszeremonie hat ein sehr aufschlussreiches und denkwürdiges Bild abgegeben. Irgendwie wirkten vdL, Rutte, Meloni und Saied deplatziert. Wie eine Militärjunta, die gerade eine Bananenrepublik mit einem Putsch übernommen hat und sich selbst die Verfassungsmäßigkeit der Machtergreifung bestätigt. Da hat wohl die geölte PR-Regie der EU-Kommission nicht das letzte Wort gehabt, sondern der altmodischere Saied.
Verstärkt wurde der Eindruck durch das kurze Statement von Saied, das auf der Tagesschau übertragen wurde. Mir kam spontan folgender Gedanke: Würde Saied nicht so authentisch gealtert, sondern so schmuck aussehen wie z.B. Frau Baerbock, würde er mit exakt derselben Wortwahl perfekt in die Brüsseler Politikinszenierung passen. So aber war er eher ein Riss in der Matrix.
Da sieht man einmal, wie wenig die politische Substanz noch mit der “modernen” politischen Inszenierung zu tun hat.
So seltsam es klingt: Solange es noch solche Risse und Inkonsistenzen in der Darstellung von Politik gibt, habe ich noch einen Rest von Hoffnung, dass wir der neoliberalen Politikwalze in der Sache noch etwas entgegensetzen können.
Helmut Höft
18. Juli 2023 @ 10:47
@Kleopatra
UvdL leidet ja nicht an möglicherweise schwankende[r] Beliebtheit, sie leidet ja an vielfach bewiesener – und hier und an vielen anderen Stellen dokumentierter – Unfähigkeit! Punkt!
Helmut Höft
18. Juli 2023 @ 10:42
@european
“Zwei Herzen wohnen ach!, in meiner Brust” Gaddafi war zweifellos ein böser Bube, ebenso zweifellos hielt er “Ordnung”(?) in seinem Sprengel. Vergleiche auch mit Tito/Jugoslawien und den heutigen Zuständen dort. Gaddafis Ermordung ein strategischer Fehler? Eher ja – aber auch diese Medaille hat 2 Seiten.
Kleopatra
18. Juli 2023 @ 09:05
Na, na. Daran, dass UvdL Präsidentin der Kommission ist, ändert ihre möglicherweise schwankende Beliebtheit nichts. Sie ist deshalb für solche Verhandlungen zuständig. (Oder wen schlagen Sie an ihrer Stelle vor?) Meloni repräsentiert das EU-Land, das an der Unterbindung der irregulären „Fährdienste“ aus Tunesien am meisten interessiert ist; dass sie „eine rechtsradikale Koalition führt“, ist kein Grund, ihr die Repräsentativität abzusprechen, solche Koalitionen sind in der EU in letzter Zeit bei Wahlen sehr erfolgreich gewesen und wer weiß, was die nächsten Wahlen in Spanien bringen? Auch die Niederlande haben vorerst keinen anderen Regierungschef als Rutte anzubieten. Letztlich hat UvdL sich von Vertretern zweier Mitgliedstaaten begleiten lassen, die besonders stark an einer Einschränkung der Migration interessiert sind.
ebo
18. Juli 2023 @ 10:50
Das “Team Europe” ist ein schillernder Begriff ohne juristische Bedeutung. Zuständig wäre der Rat, da das Abkommen ja zwischen den Staaten geschlossen wird. Nicht zuständig ist Rutte, denn die Niederlande sind weder Anrainer noch Betroffene, was sich von Italien immerhin noch sagen lässt. Nach Ihrer Logik hätte Kanzler Scholz dabei sein müssen, wie damals Merkel – denn die meisten Asylbewerber landen in Deutschland!
Meine Zweifel teilt übrigens auch der Europarechtler A. Alemanno, siehe hier (Twitter)
european
18. Juli 2023 @ 07:55
Warum sollte ein Deal mit Tunesien humaner sein als das, was man in Libyen an Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Menschenhandel und Sklaverei unterstützt? Hauptsache, die bleiben weg.
https://thegrayzone.com/2023/04/17/enslavement-african-migrants-libya-eu-funding/
„On March 27, 2023, the United Nations released the findings of a three-year investigation, confirming that “arbitrary detention, murder, rape, enslavement, sexual slavery, extrajudicial killing and enforced disappearance” has become a “widespread practice” in the once-prosperous nation of Libya, which was plunged into civil war by NATO’s regime change war over a decade ago.“
und weiter
„According to a 2021 report by the Brookings Institution, the EU has funneled $455 million to the Libyan Coast Guard and other government agencies since 2015.“
Der zitierte UN report findet sich hier:https://www.ohchr.org/en/press-releases/2023/03/libya-urgent-action-needed-remedy-deteriorating-human-rights-situation-un
Der ehemalige französische Geheimdienstoffizier, Jean-Francois Lhuillier, hat gerade ein Buch darüber veröffentlicht und rückblickend die Ermordung Gaddafis als „strategischen Irrtum und unmoralischen Fehler“ verurteilt.https://www.arabnews.com/node/2335306/middle-east