Scholz hat (k)eine Vision, Baerbock will keine Sippenhaft – und Richter gegen Brüssel

Die Watchlist EUropa vom 30. August 2022

Europäische Antworten auf die Zeitenwende: Das hat Bundeskanzler Olaf Scholz bei seiner Grundsatzrede an der Prager Karls-Universität gefordert. Leider ist der SPD-Politiker diese Antworten selbst schuldig geblieben. Scholz hat zwar viel Richtiges gesagt.

Ja, die EU muß unabhängiger werden – nicht nur von Gas aus Russland, sondern auch von Waffen aus den USA. Ja, wir brauchen Mehrheitsentscheidungen in der Außenpolitik. Ja, das Vetorecht ist ein Anachronismus.

Doch wie er diese Ziele erreichen will, hat er nicht verraten. Über die Abschaffung des Vetorechts diskutiert Brüssel schon seit Jahren. Bisher hat niemand eine Lösung gefunden – denn gegen die Abschaffung können die EU-Staaten selbst ein Veto einlegen.

Unklar bleibt auch, was die Zeitenwende für Europa bedeuten soll. Der Kanzler sicherte der Ukraine zwar dauerhafte Hilfe zu. Er erklärte sich auch bereit, „besondere Verantwortung beim Aufbau der ukrainischen Artillerie“ zu übernehmen.

Wann endet der Krieg?

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Doch angesichts der bisherigen Zögerlichkeit ist dieser Vorschlag wenig überzeugend. Aus der Defensive kommt Scholz damit nicht. Und die Bürger von seiner Europapolitik überzeugen kann er so auch nicht. Die Menschen in der EU haben ganz andere Sorgen.

Sie wollen nicht wissen, wie die EU in zehn oder zwanzig Jahren mit 30 oder 36 Mitgliedern funktionieren kann (Scholz will sogar Georgien aufnehmen!). Nein, die Bürger verlangen Antworten auf die Frage, wann der Krieg in Europa endlich endet – und was die EU tut, damit wir einigermaßen heil durch den Winter kommen.

Wie verhindern wir, dass sich der Krieg auf andere Länder ausweitet? Wie stellen wir sicher, dass Europa nicht zu den Verlierern zählt? Was tun Deutschland und die EU, um Energiekrise zu bewältigen und den drohenden Absturz in die Rezession abzuwenden?

Eine existentielle Krise

Das sind die Fragen, vor denen die Europapolitik heute steht. Doch dazu hat Scholz wenig gesagt. Sein Vortrag wirkte wie eine späte Antwort auf die berühmte Sorbonne-Rede von Emmanuel Macron aus dem Jahre 2017 – nur ohne die visionäre Kraft des französischen Präsidenten.

Scholz ist allerdings nicht der einzige, der sich schwer tut. Irgendwie wirken alle EU-Politiker aus der Zeit gefallen. Sie klammern sich an ihre alte Reformagenda – und tun so, als könne die EU weitermachen wie vor dem Krieg, nur mit mehr Waffen und härteren Sanktionen.

Welch ein Irrtum! Der Krieg hat die gute alte Friedensunion in eine existentielle Krise gestürzt; Scholz und die meisten EU-Politiker haben es nur noch nicht gemerkt…

Siehe auch: “Kopflos in die große Krise

P. S. Scholz präsentiert sich auch als Militärstratege. Neben einem EU-Hauptquartier will er auch eine gemeinsame Luftverteidigung aufbauen. Soll die EU also zu einer zweiten Nato ausgebaut werden, noch dazu unter deutscher Führung?

Watchlist

Man dürfe die Russen nicht in “Sippenhaft” nehmen, meint Außenministerin Baerbock. Doch genau das fordert Präsident Selenskyj – er will die Einreise von russischen Touristen in die EU verbieten. Was nun? Darüber wollen die EU-Außenminister am Dienstag und Mittwoch in Prag diskutieren. Estland, Lettland und Finnland sind schon vorgeprescht – sie haben Einreiseverbote angekündigt oder bereits umgesetzt. Demgegenüber stehen Deutschland, Österreich, Griechenland und Zypern auf der Bremse.

Was fehlt

Der Aufstand der Richter gegen die EU. Vier Verbände der Richter haben Klage gegen die Freigabe von Milliardenmitteln aus dem Corona-Hilfsfonds an Polen eingereicht. Die für die auszahlung gestellten Bedingungen seien “unterhalb dessen, was notwendig ist, um einen wirksamen Schutz der Unabhängigkeit der Richter und der Judikative sicherzustellen”, kritisierten die Verbände in einer gemeinsamen Erklärung. Frühere Vorgaben des EuGH seien nicht ausreichend berücksichtigt worden…