Schmusen mit Erdogan, Scheitern mit Merkel – und Showdown im Impfkrieg

Die Watchlist EUropa vom 25. März 2021 –

Nach einer monatelangen Krise, die fast zum Krieg in der Ägäis geführt hätte, will die EU ihre Beziehungen zur Türkei wieder ausbauen. Dies kündigte Ratspräsident Charles Michel vor dem EU-Videogipfel am Donnerstag an.

Geplant sei eine Annäherung in mehreren Phasen, die auch wieder zurückgenommen werden könne, heißt es in dem Schreiben. Weitere Themen des Gipfels sind Russland und die USA sowie die Corona-Pandemie.

Als erster Schritt sei ein Besuch der EU-Spitzen in der Türkei denkbar, hieß es in deutschen Regierungskreisen. Berlin wünscht sich zudem eine Neuauflage des umstrittenen Flüchtlingsdeals, den Kanzlerin Merkel 2016 mit Sultan Erdogan eingefädelt hatte.

Ebenfalls im Gespräch ist eine Modernisierung der Zollunion mit der Türkei. Dies würde der Wirtschaft helfen, die in einer tiefen Krise steckt.

Sanktionen sind vom Tisch

Sanktionen sind dagegen vom Tisch. Die EU hatte sich nach der Krise im östlichen Mittelmeer zwar auf automatische Sanktionen verständigt, diese jedoch vor einer Woche überraschend einkassiert.

Auch beim Treffen der EU-Außenminister am Montag, bei dem ein ganzes Bündel von Sanktionen gegen China, Myanmar und andere Länder verhängt wurde, blieb die Türkei verschont.

Es gebe „Licht und Schatten“, sagte Außenminister Heiko Maas zur Begründung. Zu den Schattenseiten zählt der Verbotsantrag gegen die Oppositionspartei HDP sowie der Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention zum Schutz der Frauen.

Für die Türkei gelten andere Regeln

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Die Türkei mißachtet zudem ein Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs, das im Dezember 2020 die sofortige Freilassung des Oppositionspolitikers Selahattin Demirtas gefordert hatte. In vergleichbaren Fällen – etwa beim Kreml-Kritiker Nawalny – hat Brüssel mit Sanktionen reagiert.

Doch die Türkei wird von Deutschland gedeckt. Die EU lege „Doppelstandards“ an, kritisierte der im deutschen Exil lebende türkische Journalist Can Dündar. Die EU-Politiker seien “dankbar” für die Zusammenarbeit mit Ankara in der Flüchtlingspolitik und deshalb bereit, ihre Prinzipien zu opfern.

Für eine härteres Vorgehen sprach sich Human Rights Watch aus. Die EU-Chefs sollten nicht zur Tagesordnung übergehen, “während die türkische Regierung ihre Angriffe auf Kritiker, die parlamentarische Demokratie und Frauenrechte eskaliert”, erklärte HRW-Geschäftsführer Kenneth Roth.

So zerstört man die Glaubwürdigkeit

Beim EU-Gipfel wollen Griechenland und Zypern Druck auf die Türkei ausüben. Auch Frankreich äußerte sich kritisch. Präsident Macron warnte Erdogan vor einer Einmischung bei den französischen Präsidentschaftswahlen 2022.

Doch Merkel ficht das nicht an. Die Kanzlerin hofft, dass bis Juni ein neuer Flüchtlingsdeal steht. Damit könnte sie die Flüchtlingskrise 2015 und ihre Folgen vergessen machen – pünktlich zur Bundestagswahl im Herbst wäre dies ein schöner “Erfolg”.

Doch für die Glaubwürdigkeit der EU ist dieses Vorgehen fatal. Wer soll noch Menschenrechts-Sanktionen gegen Russland oder China ernst nehmen, wenn man einem Land wie der Türkei einen Freibrief erteilt – damit es uns Flüchtlinge vom Halse hält?

Siehe auch “Keine Steueroase: Scholz schont die Türkei”

Watchlist

Wie lange kann sich Kanzlerin Merkel noch halten – und wie lange halten sich die Deutschen noch an ihr gescheitertes Corona-Regime? Diese Frage stellt man sich sogar in Brüssel, nachdem Merkel ihre “Osterruhe” zurückgezogen und eine halbgare Entschuldigung präsentiert hat. Es ist eine bange Frage – denn bisher richtete sich die Politik der EU in der Pandemie immer an Merkel und ihrer Parteifreundin von der Leyen aus. Nun hat die Merkeldämmerung begonnen – und von der Leyen ist schon seit Wochen angeschlagen. Ihr Versuch, durch ein neues Exportregime für Impfstoffe die Kontrolle zurückzugewinnen, lässt sich als Zeichen der Schwäche lesen. – Mehr hier

Hotlist

  • Showdown um AstraZeneca: Der Konzern hat dementiert, 29 Millionen Impfdosen in Italien zu horten. Laut Bericht sollten die Dosen nach Großbritannien exportiert werden. Der Pharmariese korrigiert: “Warten auf Freigabe”. So berichtet der “Kurier” aus Wien über das neueste Impfstoff-Drama. Es hat alle Elemente eines Krimis: EU-Kommissar Breton hat einen bösen Verdacht, die Carabinieri stürmen ein Impfstoff-Lager, doch die Spur verläuft im Sande...
  • Streit um Sputnik V: Die Bundesregierung regt Vorgespräche für Bestellungen des russischen Corona-Impfstoffs an. Die EU-Kommission könne bereits jetzt Bestellwünsche der EU-Länder aufnehmen, berichtet die “Zeit”.Das Problem ist nur, dass sich Brüssel bisher standhaft weigert und sogar behauptet, das russische Vakzin werde gar nicht benötigt. Gibt es hier Streit zwischen Merkel und von der Leyen?
  • Schlappe für Frontex: Die europäische Grenzagentur soll griechische Pushbacks von Geflüchteten in der Ägäis geduldet und sogar vertuscht haben. Die Vorwürfe, die unter anderem durch SPIEGEL-Recherchen ans Licht kamen, arbeitet Frontex nur schleppend auf. Nun hat das Europaparlament gehandelt – und die Entlastung des 2019-Budgets von der Grenzagentur verweigert. – Ein richtiger Schritt, doch wird er irgend etwas ändern?