Kommt nun der Trexit?
Den Brexit will die EU aussitzen. Doch was, wenn nun auch noch die Türkei die europäische Einflusssphäre verlässt? Das Treffen von Sultan Erdogan mit Zar Putin könnte den Trexit einleiten.
Alles halb so wild. Nach diesem Motto haben die wenigen EU-Politiker, die trotz Sommerpause die laufenden Geschäfte verwalten, die Aussöhnung zwischen Erdogan und Putin kommentiert.
Die Türkei sei weiter von der EU abhängig, so die herrschende Meinung. Und Russland bleibe unberechenbar. Doch was, wenn es genau umgekehrt wäre? Erdogan unberechenbar, und die EU von der Türkei abhängig?
Was, wenn sich – nur wenige Wochen nach dem kontraproduktiven Anti-Russland-Gipfel von Nato und EU – ein neues russisch-türkisches Bündnis anbahnte? Erdogan könnte zumindest damit drohen.
Der Sultan hat sich mit seinem Besuch in St. Petersburg eine neue außenpolitische Option eröffnet. Dagegen hat die EU in den letzten Tagen die Chance verpasst, Erdogan zu zeigen, wo der Hammer hängt.
Sie hätte Sanktionen verhängen können, oder wenigstens mit der Aussetzung der Beitrittsverhandlungen drohen. Doch nichts ist passiert. Und so geht die Desintegration munter weiter…
Skyjumper
10. August 2016 @ 20:39
Einen „Trexit“ sehe ich nicht kommen. Erdogan und Putin haben sich sicherlich darum bemüht an einer lästigen 2. Front einen Waffenstillstand zu vereinbaren. Unter anderem aus eben dem Grund solche Überlegungen und Sorgen zu beflügeln wie sie sich im Beitrag widerspiegeln. An mehr glaube ich allerdings nicht.
Die Türkei hat Russland nicht all zu viel zu bieten (jedenfalls nicht so lange kein heisser Krieg ausbricht), und umgekehrt darf sich Erdogan ziemlich sicher sein wer der Juniorpartner wäre, und dass Russland kein so zahmer Partner wäre wie die EU.
Hinzu kommen diametral entgegengesetzte Interessen im nahen und mittleren Osten. Ziemlich schlechte Voraussetzungen also für eine neue Achse Moskau-Ankara. Zumindest solange sich die Verhältnisse für die beiden nicht deutlich ändern/verschlechtern.
Eine solcher Änderungen könnten z.B. die von @ ebo vorgeschlagenen (angemahnten) Sanktionen sein. Ich glaube nicht dass das alleine bereits reichen würde, aber das wäre ein Schritt der die Türkei in diese Richtung drängen würde.
Umgekehrt würde eine Aufhebung der Russland-Sanktionen sicher dazu führen das Russland noch weniger Interesse an einer solchen Achse hätte.
Und schwupps steht man wieder vor der Wand der realpolitisch gebotenen Unterlassungen/Handlungen die man eigentlich nicht will, aber zur Vermeidung noch schlechterer Zustände wohl doch zulassen wird. Und das ist mit Sicherheit der wesentliche Grund warum Putin und Erdogan so demonstrativ ihren Frieden geschlossen haben.
kaush
10. August 2016 @ 11:28
Mal etwas abseits der bösartigen und manipulierenden Berichte in der Deutschen Medienlandschaft:
„…Man stelle sich vor, Expats aus den USA würde eine Liveschaltung zu den Präsidenten ihres Landes verweigert – vielleicht mit dem Argument, dass in den USA die Todesstrafe noch immer nicht abgeschafft ist und noch immer viele Menschen teilweise jahrelang in der Todeszelle sitzen?
Wie sieht es mit deutschen Politikern aus? Bei den Maidan-Protesten in der Ukraine begnügten sich der damalige Außenminister Westerwelle oder die grüne Bundestagsabgeordnete Rebecca Harms nicht mit Zuschaltungen per Bildschirm. Sie waren selber vor Ort, um die Ukraine auf den Weg in Richtung Westen zu begleiten. Die innenpolitischen Folgen sind bekannt.
Welche Reaktionen es in Deutschland gegeben hätte, wenn die alte ukrainische Regierung Einreise- und Zuschaltverbote für diese deutschen Politiker durchgesetzt hätte, kann man sich vorstellen. Allerdings hätten die in deutschen Politstiftungen gebrieften Politiker wie Vitali Klitschko ein solches Szenario verhindert…“
http://www.heise.de/tp/artikel/49/49082/1.html
Wie attraktiv ist eine EU der Doppelstandarts, die zudem von unübersehbaren Auflösungserscheinungen geplagt ist, wohl noch für die Türkei?
Nach 50 Jahren Hinhalte-Taktik?
Die Konsequenz:
„…Die unipolare Welt existiert nicht und Erdogan und Co. haben so die Möglichkeit, aus der subalternen Rolle als Pforte also Torwächter der EU herauszukommen. Den Analysten wird klar, dass Erdogan durchaus Trümpfe in der Hand hat.
In die EU setzt die Mehrheit der türkischen Bevölkerung kaum Hoffnungen, sie ist auch schon lange nicht mehr Erdogans Ziel. Aber der Flüchtlingsdeal und die Nato sind den westlichen Eliten schon ein wenig Entspannung Richtung Erdogan wert…“
http://www.heise.de/tp/artikel/49/49082/2.html
Es ist doch interessant zu sehen, das die USA die EU zwingen konnte, entgegen ihren wirtschaftlichen Interessen, Sanktionen gegen Russland zu verhängen.
Die Türkei hingegen in der Lage ist, aus dieser Instrumentalisierung durch die USA, auszubrechen.
Das zeichnet doch ein ziemlich erbärmliches Bild von einer Vasallen-EU.
S.B.
10. August 2016 @ 08:53
Die EU-„Eliten“ sind alt, satt, politisch inkompetent und deshalb ohne jeglichen Vision, was die gemeinsame Gestaltung Europas angeht. Deshalb lassen sie die Dinge einfach laufen, auch wenn die Richtung komplett falsch ist. Man sieht es an allen Ecken, dass die(se) EU schlicht abgewirtschaftet hat. Sie verschlingt Unsummen an Geld, bringt aber gar nichts. Im Gegenteil: Sie schadet ganz Europa. Sie ist zum einen ein reiner Versorgungs-Stadl für abgehalfterte Politiker und quasi nebenbei legitimierte „Volksvertreter“. Letztere haben mangels Initiativ- und Entscheidungsbefugnis noch nicht einmal die Möglichkeit, etwas Entscheidendes zu bewegen. Zum anderen ist die EU ein riesiger Lobbyverein der internationalen Großkonzerne. Was sie auf jeden Fall nicht ist: ein Projekt, welches das Wohlergehen der EU-Bürger fördert und sichert.
Summa summarum ist die EU ein überaus schlechtes Polit-Theater, das folgerichtig unter ihren Mitgliedsstaaten und deren Bürgern allenthalben zu Frustration führt.
Erdogan und Putin zeigen, dass Nationalstaaten in der Wahrnehmung ihrer Interessen viel beweglicher sind. Gerade die EU in ihrer Heterogenität kann auf solche Entwicklungen nicht angemessen reagieren. Hinzu kommt, dass sie ohnehin nur ein fremdgesteuerter Vasall der USA ist, wie sich an den Sanktionen gegen Russland zeigt, die ihr selbst nur schaden.
Schlimmer geht’s nimmer.
kaush
9. August 2016 @ 23:56
Trexit?????
„1959
Assoziierungantrag der Türkei an die EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, gegründet 1957).
1963
12.09. – Assoziierungsabkommen (Ankara-Abkommen), in Kraft 01.12.1964 (fünf Jahre Vorbereitungsphase, maximal 12 Jahre Übergangsphase, Schlussphase mit Option zur Vollmitgliedschaft in der EWG). Verzögerungen im Fahrplan durch Strukturanpassungsprobleme der Türkei in wirtschaftlichen und administrativen Bereichen….“
http://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei-und-eu/52365/chronologie
Nach über 50 Jahren des Hinhalten, wird die Türkei sicher nicht mehr scharf auf einen Beitritt sein.
Ich glaube das Erdogan jetzt die Chance sieht, der EU ein bisschen was zurückzuzahlen.
Russland ist für die Türkei der wichtigste Handelspartner. Mit der Wiederherstellung der Wirtschaftsbeziehungen kann Erdogan so zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.
ebo
10. August 2016 @ 09:40
@kaush Es geht darum, dass die Türkei aus der westlichen Einflusssphäre aussteigen könnte. Das beträfe nicht nur die EU, sondern auch die Nato und die USA. Das hätte weit größere Folgen als ein Austritt…
Peter Nemschak
10. August 2016 @ 15:09
@ebo Wenn es im nationalen Interesse der Türkei wäre, würde die Türkei aus der westlichen Einflusssphäre aussteigen. Daran könnte sie niemand hindern. Aber ist es wirklich im Interesse der Türkei? Schwer vorstellbar. Was hat Russland besonderes zu bieten, außer russische Pauschaltouristen und als Abnehmer türkischen Obstes und Gemüses. Letzteres würde die russischen Bauern, die von den Sanktionen der EU profitiert haben, wenig freuen. Gemeinsame politische Interessen in der Region Mittlerer Osten sehe ich nicht. Russland ist, verglichen mit den USA oder der EU, geopolitisch kein wirklich attraktiver Partner.