EU-Gipfel: Gerade noch die Kurve gekriegt
Was bleibt von der EU-Politik der vergangenen Woche? Die Gipfel-Erfolge beim Finanzpaket und beim Klimaschutz. Erreicht wurden sie auf Merkel-Art – mit windigen Kompromissen kriegt die Union gerade noch die Kurve. Doch die Krise geht weiter.
Die EU nimmt mit 1,8 Billionen Euro mehr Geld in die Hand denn je. Und sie setzt sich ehrgeizigere Klimaziele als (fast) alle anderen Länder. Doch bisher stehen diese wegweisenden Beschlüsse nur auf dem Papier.
Merkel hat für ihre hochgelobten Deals so viele faule Kompromisse gemacht, dass man versucht ist, an der Substanz ihrer Europapolitik zu zweifeln. Die Erfolge könnten sich nur allzu schnell als Scheinlösungen erweisen.
Besonders deutlich ist dies bei der Einigung zum EU-Budget und zum Corona-Hilfspaket. Merkel hat den Deal mit einer Mogelpackung beim sogenannten Rechtsstaatsmechanismus erkauft.
Ungarn und Polen können nun weiter den Rechtsstaat abbauen und die Demokratie aushöhlen, ohne Kürzungen bei den EU-Hilfen fürchten zu müssen.
Auch das „historische“ Finanzpaket ist bei näherer Betrachtung nicht so doll. Das EU-Budget für 2021–2027 ist geschrumpft, der Corona-Hilfsfonds wird frühestens im Sommer 2021 wirksam.
Gegen die Folgen der aktuellen „zweiten Welle“ hilft es nicht – weshalb sich die Europäsche Zentralbank am Donnerstag genötigt sah, ein neues Notprogramm zur Stützung der Wirtschaft aufzulegen.
Und was ist mit dem Klima? Schreitet die EU da nicht mutig voran?
Nein, sagen Greta Thunberg und die Fridays-for-Future-Bewegung. Sie schreien „Verrat“, weil die Europäer zwar ständig neue Ziele ankündigen, aber keine Maßnahmen beschließen, um sie auch zu erreichen.
Auch das Europaparlament ist enttäuscht. Die nun beschlossene Senkung des CO2-Ausstoßes um 55 Prozent netto reiche nicht aus, um die Pariser Klimaziele zu erreichen, kritisieren die Abgeordneten.
Auch sie wittern eine Mogelpackung, weil die EU ihr neues Ziel nur mit diversen Rechentricks und teuren Zugeständnissen an die Kohle- und Atomenergieländer erreichen dürfte.
Doch immerhin: Die 27 haben sich auf ein neues Ziel geeinigt – und das neue EU-Budget dürfte dazu beitragen, sich diesem Ziel auch zu nähern.
Kein Wort zum Brexit
Bleibt der Brexit. Am Sonntag läuft eine weitere Deadline ab, diesmal könnte es tatsächlich ernst werden. Doch der deutsche EU-Vorsitz hielt es nicht für nötig, den drohenden harten Bruch auf ihrem Gipfel zu diskutieren.
Premier Johnson wollte danach noch persönlich mit Merkel sprechen – doch die hat das Gesprächs-Angebot ausgeschlagen. Ob sie unbeteiligt am Rand stehen will, wenn es zur nächsten Krise kommt?
Noch ist sie die amtierende Ratsvorsitzende, noch kann sie handeln…
Dies ist die aktualisierte Fassung eines Kommentars für die taz. Das Original steht hier. Siehe auch “Merkels Doppelkrise”
P.S. Die Brexit-Verhandlungen gehen weiter, erklärte Kommissionschefin von der Leyen am Sonntag. Sie folgt damit der deutschen Linie – bloß keinen harten Bruch…
Jürgen Klute
13. Dezember 2020 @ 09:57
Ja, bei Merkel kann man manchmal den Eindruck bekommen, dass sie noch immer nicht gelernt und verinnerlicht hat, was Demokratie und Rechtsstaat bedeuten. Das scheinen für sie nur Adjektive und keine substantiellen Elemente einer offenen Gesellschaft zu sein. Und die Bedeutung der EU scheint sie noch viel weniger begriffen zu haben. Manchmal erscheint mir Merkel als die späte Rache Honckers an der EU, die für Honecker eben nur der politische Arm der Nato war, also der politische Arm der Klassenfeindes.
ebo
13. Dezember 2020 @ 11:17
Merkel kann mit Kommission und Parlament nichts anfangen, sie setzt aufs Intergouvenmentale und auf Deals hinter verschlossenen Türen. Dieser Gipfel hat es noch einmal gezeigt.
Zugleich ist deutlich geworden, dass das intergouvenmentale Krisenmanagement mit 27 nicht funktioniert. Die EU braucht endlich einen festen Kern oder eine Avantgarde, ohne Quertreiber wie Ungarn.
Das Europaparlament muß sich endlich gegen den Rat auflehnen und dem ER seine Kompetenzen streitig machen. Doch es wagt es nicht – und wird immer weiter an den Rand gedrängt…
Eidgenosse
12. Dezember 2020 @ 14:07
Die Schweizerische Eidgenossenschaft kennt die Gewährleistung der kantonalen Gesetzen durch die Bundesversammlung. Die Schweiz verfügt über eine Verfassung. So ist die Demokratie gut verankert. Die Verfassung wird immer wieder angepasst an die Zeit. Das fehlt der EU, das fehlt der USA. Die Schweiz hat die belächelte direkte Demokratie.
ebo
12. Dezember 2020 @ 14:13
Tja, leider kann man die EU-Verfassung – also den Lissabon-Vertrag – so gut wie gar nicht ändern. Er war übrigens auch eine deutsche Erfindung, nachdem die “echte” Verfassung bei Referenden in Frankreich und Holland durchgefallen war…