Die AfD und die Aporien der EU
Der frühere EU-Chef Martin Schulz hat die Politik aufgefordert, die Ängste vor einem sozialen Abstieg ernster nehmen. Nur so ließen sich die AfD und andere Populisten stoppen. Doch seine Analyse greift zu kurz.
“In dem Moment, in dem die Politik diese Angst durch konkretes Handeln abmildert, können wir Menschen davor schützen, blind Populisten zu folgen”, sagte Schulz dem digitalen Medienhaus “Table.Media”.
Der SPD-Politiker spricht damit einen wichtigen Punkt an. Denn spätestens seit der Finanz- und Eurokrise ist die Angst vor einem sozialen Abstieg real – sie hat sogar große Teile der Mittelschicht erfasst.
Doch eigentlich wäre es Aufgabe von Schulz’ Genossen, die sozialen Probleme zu lösen. Das gelingt ihnen offenbar nicht mehr, oder nicht ausreichend. Zudem nährt sich die AfD von zwei anderen, ungelösten Problemen.
Sie entstand während der Eurokrise, als die AfD einen härteren und sozial rücksichtsloseren Kurs gegenüber den “Schuldensündern” forderte. Und sie nährt sich von der andauernden Migrationskrise.
Die EU hat beide Probleme mit verschuldet – und erweist sich bis heute als unfähig, sie zu lösen. Der Euro steht weiter auf wackligen Füssen, die Schuldenregeln sind obsolet, die Inflation verschärft die sozialen Probleme.
Die Flüchtlingskrise von 2015/16 ist immer noch nicht aufgearbeitet. Die Zahl der irregulären Migranten steigt wieder, die Flüchtlinge aus der Ukraine sorgen für zusätzliche Belastungen – doch die EU schaut weg.
Es sind diese Aporien, die die AfD und anderen Rechtspopulisten mehr oder weniger erfolgreich ausbeuten. Seit 2022 kommt auch noch der Krieg hinzu, in den sich die ehemalige “Friedensunion” EU immer tiefer hineinziehen lässt.
Auch dies ist eine offene Wunde. Doch auch darüber spricht man nicht – nicht mal in der ehemaligen Friedenspartei SPD…
Siehe auch AfD-Spitzenkandidat will doch keinen Dexit
P.S. Erschwerend kommt hinzu, dass die konservative “Volkspartei” EVP zunehmend Parolen und Programme der Rechten übernimmt. Eine “Brandmauer” gibt es nicht mehr, sogar EU-Chefin von der Leyen kennt kaum Berührungsängste…
Helmut Höft
14. August 2023 @ 21:59
Betreffend AfD und Zahlen, siehe hier: https://www.dkriesel.com/_media/sonntagsfrage_90tage.png
David Krisel mittelt die Zahlen von 9 „Umfrage“instituten, und komm so nmM zu einem validen Ergebniss.
David Kriesel? Siehe hier: https://de.wikipedia.org/wiki/David_Kriesel Seine Vorträge auf dem CCC Xerox Bug und Spiegel-Meining sind sehenswert!!elf!!
european
8. August 2023 @ 07:35
@KK
Bezüglich Frau Ali habe ich genau dasselbe gedacht. Man darf gespannt sein, wer sonst noch folgt. Sevim Dagdelen könnte ich mir ebenso gut vorstellen wie Zaklin Nastic.
Sahra Wagenknecht war kürzlich bei Mark Friedrich und hat auch darüber gesprochen, was ihre Prioritäten wären, wenn… Alles, was sie daraufhin sagte, klang nach durch und durch solider Politik. Keine reaktive Doppelwumms-Politik, sondern strategisch geplanter Aufbau des Landes, von Schule und mehr Lehrern bis Aufbau der Infrastruktur und ordentlicher Industriepolitik.
KK
7. August 2023 @ 23:27
@ umbhaki:
„…und sicher auch nicht von dieser geheimnisvollen Neugründung, auf die manche Anhänger der Frau Wagenknecht hoffen.“
Warum nicht? Ich denke schon, dass eine solche Partei auf viele Fragen die richtigen Antworten geben würde und damit für viele wählbar wäre – ob nun aus dem Lager derjenigen, die jetzt aus Frust die sogenannte „AfD“ oder eben gar nicht (mehr) wählen… (das wäre immerhin ein Potential von rund 50%, wenn man wirklich all die motivieren könnte, die sich von den etablierten Parteien nicht mehr vertreten fühlen und denen die sogenannte „AfD“ zu rechts ist – denn die Nichtwähler würden derzeit die mit Abstand stärkste Partei stellen, rechnete man sie in der Sonntagsfrage mit ein!)
Und der gestrige Schritt von Frau Ali, den Fraktionsvorsitz der sogenannten LINKE niederzulegen bzw. ihn nicht erneut anzustreben, sehe ich bereits als einen vorbereitenden Schritt für deren Wechsel zu einer solchen Partei. Dass eine solche Gründung wohl vorbereitet sein will, um möglichst nicht schon am Anfang zu scheitern, war heute erst hier zu lesen:https://www.nachdenkseiten.de/?p=102128
umbhaki
7. August 2023 @ 22:32
Wir sollten schon von vorneherein nicht vergessen, dass beträchtliche Teile der AfD-Mitglieder von anderen Parteien herüber gewandert sind, vornehmlich von den „christlichen“. Das prominenteste Beispiel hierfür ist wohl Alexander Gauland, der zwar aus Chemnitz gebürtig ist, jedoch in der hessischen CDU unter seinem Mentor Walter Wallmann Karriere machte. Wer die hessische CDU kennt, weiß, dass Gauland sich nicht sonderlich verändert hat durch seinen Parteiwechsel, und das dürfte für manch anderen so ähnlich zutreffen.
@Artur Dent hat schon knapp beschrieben, wie die „etablierten“ Parteien – und zwar ausnahmslos ALLE – den Aufstieg der AfD befördern. Manches könnte man noch ergänzen. Gerade bin ich im Artikel über das Schulz-Zitat gestolpert. Der faselt da von einer Angst der Menschen vor sozialem Abstieg, und dass er die Menschen „vor dieser Angst schützen“ (sic!) will, damit sie nicht „blind Populisten folgen“.
Nun ist diese Angst ja durchaus real, und am ehesten leidet der sogenannte Mittelstand darunter. Dort bekommt die AfD auch ihre Mitglieder und Wähler her. Die beliebte Mär von doofen Unterschichtler, der angeblich auf rechts hereinfällt, ist hirnloser Selbstbetrug der anderen Parteien. Vielmehr erkennt der Mittelständler, dass die herrschende Politik ihn in die Bredouille führt, und zieht daraus den falschen Schluss, dass dies sich mit rechter Politik ändern ließe.
(Diesen falschen Schluss teilt er mit den christlichen Oberindianern, namentlich Merz und Söder. Denen fällt als Antwort auf Rechtsaußen ja auch bloß ein, Politik von rechts außen zu machen.)
Es wäre ja schön, wenn von irgendwoher mal eine LINKE Alternativ-Perspektive ausgearbeitet und der Bevölkerung verständlich erläutert würde. Dies ist aber nirgendwo der Fall, und nein: auch nicht von der Partei, die sich irrtümlich so nennt, und sicher auch nicht von dieser geheimnisvollen Neugründung, auf die manche Anhänger der Frau Wagenknecht hoffen.
Alt-Demagoge Schulz spricht seinen Schäfchen das Denkvermögen ab. Er hält die Leute für doof und spricht damit vermutlich für seine ganze verlogene Kaste. Er will „die Angst durch konkretes Handeln abmildern“. Hat er auch irgendwo gesagt, was er darunter versteht? Vermutlich, nein: mit Sicherheit meint er damit wieder nur ein paar Sozialpflästerchen, um die schlimmsten Auswirkungen der immer weiter fehlgeleiteten Politik zu mildern. Sozialpflästerchen, die sich dann der Herr Finanzminister Linder von der FDP erwartungs- und programmgemäß verbittet, weil „Kasse leer“.
Wenn dann die AfD immer noch Zulauf hat, ja dann weiß der Herr Schulz auch nicht mehr, woran es noch liegen könnte. Hat er doch schon alles in die Waagschale geschmissen, was ihm unter äußerster Denkanstrengung einfallen wollte.
Die kontinuierlich fortschreitende Bedrohung des allgemeinen Lebensstandards ist die völlig selbstverständliche Folge in der Entwicklung unseres Wirtschaftssystems. In unseren Schulen wird dieser Zusammenhang nicht gelehrt, marxistische Arbeiterbildungsvereine gibt es nicht mehr, stattdessen gibt es „Bild“ und „RTL2“ – es scheint, als sei das Wissen um die Wirkungsweise unseres spätkapitalistischen Wirtschafts- (und Gesellschafts-)systems und um seine notwendig vorhandenen Grenzen ganz allgemein nicht mehr vorhanden. Bei unseren sogenannten politischen „Eliten“ (hüstel) sowieso nicht, denn MIT einem solchen Wissen reüssiert man in diesem politischen System nicht.
DIESER riesige Elefant im Raum wird nirgendwo mehr thematisiert. Er wird einfach nicht mehr wahrgenommen. Man kann sich ohne weiteres den Untergang der Welt vorstellen (Atomkrieg, Klimakatastrophe – wie’s beliebt), aber ein Überwinden des Kapitalismus kann man sich nicht mehr vorstellen. Lieber fantasiert man sich irgendwelche menschlichen Schuldigen herbei: die Flüchtlinge z. B. oder den Putin. Oder den Biden, je nach Geschmacksrichtung.
Also so: CD/SUSPDGrüneFDP: Putin ist schuld.
AfD und Verwandte: Die Zuwanderer und Biden sind schuld.
Besonders originell ist das nicht. Hilfreich erst recht nicht. Aber für mehr reicht es nicht mehr bei den Politikerïnnen und ihren Wählerïnnen (hier habe ich vorsichtshalber mal gegendert).
Ach so, tl:dr:
Die AfD erlebt derartige Höhenflüge, dass sogar Martin Schulz das merkt? Worüber kein Politiker und kein Journalist spricht: Die AfD ist die einzige Partei, die sich gegen die Unterstützung der Ukraine und die Verlängerung dieses Kriegs ausspricht. Meiner unwissenschaftlichen Meinung nach ist das der wesentliche Grund für den Erfolg dieser Partei. Unabhängig davon, warum die Menschen gegen diesen Krieg sind, weil sie gegen diese Schlächterei sind oder bloß, weil sie die negativen Wirkungen auf die eigene Situation sehen. Aber auf diese einfache Erkenntnis will Schulz’ Partei ja nicht kommen. Die andern auch nicht.
ebo
7. August 2023 @ 22:51
Richtig, die abweichende Meinung zum UKraine-Krieg dürfte beim Höhenflug der AfD eine Rolle spielen. Es ist ein Trauerspiel, dass sich ausgerechnet eine Partei, die nie ein klares Verhältnis zu Nazi-Deutschland hatte, mit einem (hlabseidenen) Nein zum Krieg ptofilieren kann! Das sollte eigentlich der Markenkern der SPD, der Linken und der Grünen sein…
KK
7. August 2023 @ 19:01
Aporie musste ich tatsächlich im Duden nachschlagen; für die EU sehe ich eigentlich nur noch eine quälende Agonie…
european
7. August 2023 @ 14:11
Das „Erfolgsmodell“ der deutschen Wirtschaft beruht auf dem realen Abstieg ganzer Bevölkerungsschichten. Nennt sich Niedriglohnsektor und wurde von SPD und Grünen geschaffen. Jetzt von Abstiegsaengsten zu reden ist entweder Verhoehnung oder Realitaetsverweigerung.
Das zweite „Erfolgsmodell“ nennt sich Austeritaet und wurde von Merkel europaweit durchgepeitscht, obwohl gerade wir Deutschen wissen mussten, dass man niemals in eine Krise hineinsparen darf. Brüning lässt grüßen.
european
7. August 2023 @ 14:01
Wer über Schuldensuender klagt, muss unbedingt die Sparsuender benennen. Wer über Defizitlaender hetzt muss die Ueberschusslaender verurteilen. Das eine geht nicht ohne das andere.
In einem Binnenmarkt gibt es nur abgeschlossene Accounts. Das „vergessen“ wir so gern, die AfD besonders gern. Das sind die Momente, wo ich mich frage, ob „Bankerin“ Alice Weidel jemals eine Bankbilanz gesehen hat, oder sogar gelesen. Dann wuesste sie das nämlich. Entweder sie weiss es, dann ist es bewusste Irreführung der Wähler oder sie weiss es nicht, dann muss man ihre Kompetenz sofort infrage stellen.
Das Kind ist insofern in den Brunnen gefallen, weil es in die deutschen Köpfe eingebrannt wurde, dass die PIGS, die Schweine im Süden Europas doch auf Kosten der sparsamen Deutschen leben und uns nur auf der Tasche liegen.
Manipulation durch Verschweigen der ökonomischen Zusammenhänge. Eine Unwahrheit wird auch durch Wiederholung nicht wahrer.
Arthur Dent
7. August 2023 @ 13:21
Der Ausspruch „In der EU wird wieder deutsch gesprochen“ stammt nicht von der AfD sondern von Volker Kauder, die „Grexit-Empfehlung“ von Wolfgang Schäuble, Gegner von Rettungsschirmen, Gemeinschaftsverschuldung und Stabilitätsmechanimen ist vor allem die FDP, die „Festung Europa“ befürworten gleichermaßen die Liberalen wie auch die Unionsparteien.
Die berechtigten Ängste der Lohnabhängigen vor dem sozialen Abstieg, ausgelöst durch eine entfesselte Globalisierung, werden von den Sozialdemokraten ebenso ignoriert wie von der Linkspartei oder den Grünen. Dìese Ignoranz ist praktisch der Steigbügel für den Aufstieg der radikalen Rechten. Sobald sie aber einen Platz an den „Fleischtöpfen der Macht“ ergattert haben, erstirbt die Kritik, dann suchen sie die Nähe zum großen Kapital – das aber fühlt sich in der EU aber ganz wohl.