It’s geopolitics, stupid!
Beim G-20-Treffen in Brisbane drehte sich (fast) alles um die Ukraine. Das eigentliche Thema – die Krise der Weltwirtschaft – geriet in den Hintergrund. Dabei sind beide Probleme eng verbunden, gerade in Europa.
Ziemlich genau vor einem Jahr begann der Aufstand auf dem Maidan. Damals tat die EU noch so, als habe sie damit nichts zu tun. Man werde sich nicht auf einen “Bieterwettbewerb” mit Russlands Putin einlassen, schwor man in Brüssel.
Schon damals war klar, dass das nicht stimmte – und dass die Ukraine ins Zentrum eines geopolitischen Machtspiels zwischen Russland, den USA und der EU geraten war. Nachzulesen ist dies z.B. hier.
Doch die Europäer haben die Augen vor der Wahrheit verschlossen. Sie wollten auch nicht sehen, dass sie sich mit den Wirtschaftssanktionen gegen Russland ins eigene Knie schießen; vor allem Deutschland trifft es hart.
All das hat Putin den Europäern in Brisbane ins Stammbuch geschrieben. Doch statt über ein Ende der geopolitischen Krise nachzudenken, droht die EU mit neuen Sanktionen, obwohl sogar Chefdiplomatin Mogherini zweifelt.
Dabei ist doch ziemlich klar, was getan werden müsste (und könnte): Die EU sollte eine (bereits einmal erwogene) Lockerung der Sanktionen anbieten – unter der Bedingung, dass der Friedensplan von Minsk (wieder) umgesetzt wird.
Gleichzeitig müssten die Europäer endlich auch Druck auf Kiew machen. Denn aus der Ukraine kommen mit dem Mauerbau an der Grenze und der neuen Wirtschaftsblockade der abtrünnigen Ostregionen gefährliche Signale.
Die größte Gefahr geht nicht von Russland aus
Schließlich gilt es, die geopolitischen Prioritäten neu zu ordnen: Die größte Gefahr für den Westen geht nicht von Russland aus, sondern von den zunehmenden Spannungen in Nahost und Asien – und von der nächsten Weltwirtschaftskrise.
Dass diese Krise schon begonnen hat, dafür gibt es jeden Tag neue Anzeichen. Eine weitere Eskalation des Sanktionskriegs mit Russland würde die Lage an den Märkten nicht besser machen, im Gegenteil.
Hingegen wäre eine Entspannung im Osten Europas – und eine Einbeziehung Russlands in die geplante Freihandelszone mit der Ukraine – das beste Konjunkturprogramm für die EU. It’s geopolitics, stupid!
Ellis
20. November 2014 @ 11:01
@sh da ist die USA ein bisschen spät dran. China hat vor zehn Jahren bereits völlig unbemerkt die wichtigen Verträge mit Afrika abgeschlossen.
Was die Sanktionspolitik anbelangt so hege ich die verwegene Idee, dass Russland nun, da die üblichen Verdächtigen ihr Geld abziehen und Russland quasi konzernfrei ist, es dort Platz gibt für eine spontane Explosion innovativer und zukunftsweisender Problemlösungsansätze.
Und wenn das staatlicherseits unterstützt wird, haben wir in fünf bis zehn Jahren den nächsten “Sputnikschock”.
Ja, ja – man wird ja noch träumen dürfen.
sh
17. November 2014 @ 08:35
Die europäischen Politiker wissen all die oben geschilderten Fakten selbst – aber es sind ihnen wohl durch Erpressungen/Drohungen auf diversen Ebenen die Hände gebunden: sie machen daher gute Miene zum bösen Spiel.
Washington bzw. dessen Ostküsten-Geldmafia will eine Spaltung zwischen Europa und Rußland/China, insbesondere die Verhinderung der “neuen Seidenstraße”, dh. eines eurasischen Wirtschaftsraums, der sich dank Rußlands (Energie)Rohstoffe auch optimal ergänzen würde. Um die Ukraine geht es primär gar nicht, sie ist nur “Mittel zum Zweck” dazu.
Auch in Nahost/Ostmittelmeer/Arabische Frühlinge geht es um die Kontrolle der Energieversorgung Europas (Pipelines und Gas-/Ölfelder), die u.a. die anglo-amerikanische Ölmafia gerne behalten möchte und Gazprom gerne übernehmen würde (an letzterem hätte natürlich auch Europa definitiv kein Interesse, da sonst ein Monopol der Russen entstünde).
Die Spannungen der USA mit China entzünden sich daran, daß die USA aggressiv die Rohstoffaquisitionen der Chinesen unterbinden, u.a. in Afrika. Wo immer die Chinesen Verträge unterzeichnen, werden islamische Terrororganisationen aktiv oder Ebola-Viren.
Tim
16. November 2014 @ 21:24
Begriffe wie “Sanktionskrieg” finde ich unangemessen. Die Gräuel eines Krieges sind in keiner, aber auch wirklich keiner Weise mit Wirtschaftssanktionen zu vergleichen. Journalisten lieben diese Art von Metapher leider, aber es ist eine geschmacklose Angewohnheit. Wahrscheinlich liegt es daran, daß kaum ein heutiger Journalist jemals unter Kriegsfolgen zu leiden hatte. Da relativiert man gern mal Tod, Verstümmelung und unermeßliches Leid.
Volle Zustimmung hingegen zu Deinem Plädoyer für Freihandel auch mit Rußland. Es wird zwar Jahrzehnte dauern, die Risse in der Psyche einfacher Russen zu kitten, aber wir müssen jede Chance nutzen.
Peter Nemschak
17. November 2014 @ 09:03
Putin scheint derzeit nicht besonders pazifistisch gestimmt zu sein. Die Russen sind wie alle Völker mehrheitlich einfältig und unfähig zur Selbstreflexion. Es fehlt ihnen die innere Distanz zu den jeweils Herrschenden. Das Verhalten Putins macht Eindruck und verbindet sie. Man fragt sich, wie lange, da die Volksseele durchaus launisch und unstet ist.
DerDicke
18. November 2014 @ 21:12
“Die Russen sind wie alle Völker mehrheitlich einfältig und unfähig zur Selbstreflexion.”
Ok, falls ihr Menschenbild ein Abbild des Menschenbildes in der Politik ist verstehe ich langsam was auf unserer Welt abgeht.
Der Optimist in mir hofft, dass Menschen wie Sie niemals Kontrolle über andere Menschen erlangen, sei es im Beruf, Privatleben oder Politik.
Der Realist in mir weiß, das Soziopathen leider den Drang und die Skrupellosigkeit haben, um in die entsprechenden Positionen zu gelangen. Weshalb die Welt auch so mies ist wie sie ist.
DerDicke
18. November 2014 @ 21:08
Fragen sie mal die Kubaner oder Iraner, wie es sich unter Dauersanktionen lebt, wenn Krankheiten wegen fehlender Medikamente nicht behandelt werden können und Flugzeuge wegen fehlenden Ersatzteilen vom Himmel fallen.
(Wirtschafts-)Sanktionen sind Krieg, nur mit anderen Mitteln.
Peter Nemschak
16. November 2014 @ 20:44
Es wäre interessant zu erfahren, was die Herrschaften off-the record über die Ukraine gesprochen haben.