Die Totengräber
[dropcap]N[/dropcap]ein, so hat Europa nicht werden wollen. Nein, so hätte Europa nicht werden sollen. So zerrissen. So hoffnungslos. Der Traum der Europäischen Gemeinschaft, das wird in den historisch-hysterischen Tagen nach dem Brexit immer klarer, ist eine Lebenslüge.
Die Urgroßväter der EU und die Politiker, die nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs den Kontinent befrieden und einigen wollten, sie wollten nicht das Paradies auf Erden, nicht die klassenlose Gesellschaft, das gewiss nicht.
Aber sie wollten sehr Konkretes: “Wohlstand für die Völker” (Konrad Adenauer), ein Europa “der sozialen Gerechtigkeit” (Carlo Schmid).
Die Vision erlischt mit den Grenzzäunen
Man hätte sich begeistern können für diese Vision, ja, man hat sich begeistert – deutsche und französische Jugendliche rissen vor 60 Jahren, beflügelt von dieser europäischen Vision, gemeinsam Grenzzäune ein. Aber sie lebt nicht mehr, diese Vision. Sie ist erloschen. Heute werden in Europa wieder Grenzzäune hochgezogen.
War diese Vision, die Sehnsucht nach einem gemeinsamen Europa, ein zu großer Gedanke, immer schon?
Die europäischen Nationen, und ihre Bürger, sind sich insgesamt merkwürdig fremd geblieben. Es gibt, nach all den vielen Jahren der Europäisierung, keine europäische Identität. Jede Nation lebt in ihrer Kultur, ihrer Tradition, ihrer Geschichte. Wir haben keine transeuropäischen Medien, keine gemeinsame Literatur. Jedes Land kennt die amerikanischen Filme besser als die der Nachbarn in der EU.
Kaum einen Deutschen oder Franzosen interessiert es, was hinter den Karawanken oder in Rumänien passiert, oder ob in Estland gerade Regionalwahlen sind. Rumänen ist es egal, ob in Schottland gerade Schafe geschoren werden. Und wer in Europas Norden versteht schon das Klanwesen in Griechenland? Wir wissen mehr über die Probleme der Schwarzen oder Latinos in den USA als über das Leiden der Sinti und Roma in Ungarn. Die Europäer sind Amerikanern näher als anderen Europäern, so ist es.
Zurück kommen Chauvinismus und Nationalismus
Man muss das zur Kenntnis nehmen, man muss es nicht betrauern. Traurig aber ist es, zu erleben wie in diesen Tagen die Europäische Gemeinschaft dem Untergang entgegen taumelt. Wie zurückkommt, was historisch überwunden schien: der gefährliche Chauvinismus, der aggressive Nationalismus. Denn das war, und das ist noch, das Glück Europas: das friedliche Neben- wenn schon nicht Miteinanderleben.
Sie würden staunen, die Nachkriegspolitiker, wenn sie sähen, was ihre Enkel angerichtet haben: Wie Thatcher, Blair, Schröder, Merkel diesen Traum von Europa verspielt haben. Wie sie fast alles Soziale dem Gott der Ökonomie geopfert haben. Wie zerrüttet das EU-Gefüge ist, zeigt sich sogar dort, wo man es am allerwenigsten erwartet, im reichsten Land des Kontinents, in Deutschland – wenn man bereit ist, genau hinzuschauen: 1969 wuchs jedes 73. Kind in einem Sozialhilfehaushalt auf, 1994 jedes elfte Kind, und heute lebt jedes siebte in diesem entwürdigenden Zustand.
Bedrückende Armut und obszöner Reichtum
Es ist mit Europa ein Gebilde entstanden, in dem bedrückende Armut unten und obszöner Reichtum oben gleichermaßen wachsen.
Nein, solch ein Europa wollten jene, die es aufbauten, sicherlich nicht. So tot.
Die Totengräber der Europäischen Union sind weit verbreitet, sie sind auch dort, wo man sie nicht vermuten würde. Zum Beispiel im ARD-Hauptstadtstudio. Dort saß jüngst der Bundespräsident. Es war der Tag, an dem er seinen Amtsverzicht verkündet hatte, es war kurz vor dem Tag des Brexit-Votums, der die Europäische Union erschüttern würde. “Die Eliten sind gar nicht das Problem”, sagte Joachim Gauck dort im Ersten Deutschen Fernsehen, “die Bevölkerungen sind im Moment das Problem”. Es sei nötig, so fuhr er fort, “dass wir stärker mit denen wieder das Gespräch suchen.”
(Teil 2 steht hier)
Arno Luik (61), geboren in Königsbronn auf der Ostalb, ist Autor des Magazins “Stern”. Sein Beitrag erschien zuerst in der Wochenzeitung “Kontext”. Repost mit freundlicher Genehmigung der Redaktion – danke!
hintermbusch
31. Januar 2017 @ 13:50
“Wir haben keine transeuropäischen Medien, keine gemeinsame Literatur.”
In jedem Land regiere ein “Einheitsdenken”, das abweichende Sichten an den Rand dränge, aber selbst völlig inkompatibel sei mit dem Einheitsdenken der Partnerländer. Man glaube, von gemeinsamen Dingen zu sprechen, meine aber mit denselben Begriffen jeweils etwas anderes.
Diesen Befund stellte Emmanuel Todd bereits 1998 nicht nur den EU-Mitgliedsländern sollten allen Nationen der westlichen Welt inklusive Japan. Selbst der “Kapitalismus”, der in jedem Land als alternativlos gepredigt werde, habe mit dem Kapitalismus wenig zu tun, der in den Partnerländern praktiziert werde. Der deutsche Exportkapitalismus sei eng verwandt mit dem japanischen, habe aber gar nichts zu tun mit dem amerikanischen oder englischen Kapitalismus, und Frankreichs Wirtschaft habe sowieso wenig mit Kapitalismus zu tun. Alles sei ein riesiges Missverständnis, das in einem globalen Desaster enden werden, vor allem in der EU, wo alles in ein gemeinsames Korsett gezwungen werde, das aber niemandem passe.
https://www.amazon.de/Die-neoliberale-Illusion-entwickelten-Gesellschaften/dp/3858691771/
Winston
17. Januar 2017 @ 09:07
Der böse Trump verspricht eine Krankenversicherung für alle, als Ersatz des Obamacare.
https://www.nytimes.com/2017/01/15/us/politics/trump-health-law-replacement.html?_r=0
Glaube Trump hat Keynes gelesen. :-)))
Seine Wirtschaftspolitik ist ganz klar Keynesianisch, der Konflikt mit der durch und durch Neoliberalen EU und vor allem Euro-Zone dürfte vorprogrammiert sein.
polaroid
12. Januar 2017 @ 21:08
Wenn man sich darüber beschwert, dass die EU ein undemokratisches Gebilde, dass lediglich nur dem Interesse der Wirtschaft dient, und nicht den Menschen, die in ihr Leben oder der Umwelt, in der wir alle leben, dann muss man bedenken, dass sie genau zu diesem Zweck erschaffen wurde. Das Projekt EU war von Anfang an als Wirtschafts- und Währungsunion gedacht, das heißt sie sollte nur dazu dienen einen freien Markt auf Europäischer Ebene zu sichern und zu viel Demokratie wäre da doch nur hinderlich.
Funktionierende Institutionen der europäischen Einheit, nicht nur auf wirtschaftlicher, sondern auch auf sozialer, ökologischer und politischer Ebene, hätten mit einem ganz anderen Motiv gegründet werden müssen.
Peter Eschke
11. Januar 2017 @ 10:57
Das Problem ist, dass sich in vielen Ländern die Politik nicht an den Wünschen und Bedürfnissen des Volkes, sondern an den Vorgaben der wirtschaftlichen Eliten orientiert. In Deutschland wird ein viel zu große Wirtschaftsleistung für das Ausland hergestellt. Waren, die bei uns für das Ausland hergestellt werden führen zu Export von Arbeitslosigkeit. Wer mehr zu diesem Thema lesen möchte empfehle ich “Makroskop.eu” und das Buch “50 Vorschläge für eine gerechtere Welt”.
Im Herbst besteht für alle Bürger in Deutschland die Chance eine Partei zu wählen, die nicht über Parteispenden des Kapitals finanziert werden. Da gibt es nach meiner Einschätzung nur zwei. Die AfD meine ich sicher nicht!
kaush
11. Januar 2017 @ 10:32
In seinen Feststellungen zum Ist-Zustand stimme ich Arno Luik weitgehend zu.
Nur geht die Gründung der EU nicht (nur) auf diese romantische Erzählung zurück.
Churchill initiierte 1947 das s.g. “Unitetd Europe Movement”.
Chef dieser europäischen Bewegung wurde sein Schwiegersohn Sandys. Tja, so was gab es auch schon lange vor Trump…
Finanziert von amerikanischen Geheimdiensten. Als Kulisse fungierte das “American Committee for a United Europe”.
1948 traf man sich dann in Den Haag…
Das es nach dem zweiten Weltkrieg genug Menschen und Politiker gab, die sich sagten: So etwas darf es in Europa nie mehr geben, ist unbestritten.
Aber eben so klar ist, dass Amerika ein einiges Westeuropa schmieden wollte. Als Bollwerk gegen die Sowjetunion.
Keine romantische Geschichte, sonder Geopolitische Interessen.
Das es gelungen ist, aus s.g. Erbfeinden gute Nachbarn werden zu lassen, ist eine wirklich historische Leistung.
Merkel & Co. setzen das leichtfertig aufs Spiel.
S.B.
11. Januar 2017 @ 13:14
@kaush: Gute Nachbarschaft ist aber nicht vom (Fort-) Bestehen der EU abhängig. Egal auf welcher institutionellen Basis, ist gut Nachbarschaft jedenfalls abhängig vom guten Willen der Beteiligten zum friedlichen Miteinander. Das die Aktivitäten der EU, die freilich von deren Mitgliedsländern gesteuert werden, deren friedliches Miteinander befördern, kann man in den letzten Jahren nicht wirklich feststellen. Irgendwie passt diese Zwangsjacke keinem so richtig. Eine andere Basis muss her. Dies könnte auch eine ganz wesentlich reformierte EU sein. Für meinen Teil glaube ich allerdings, dass sich dieses Projekt zu sehr negativ abgenutzt hat und mit seinem schlechten Image von der Politik nicht mehr in einem Neuaufguss an die Bürger zu verkaufen wäre.
kaush
12. Januar 2017 @ 06:40
@S.B.
Volle Zustimmung!
Arno Niesner
11. Januar 2017 @ 10:29
Der größte Feind ungleicher Daseinsverhältnisse heißt FAIR-Teilung! Der Versuch, die Inhalte der Tresore zum Schmelzen zu bringen muss misslingen, so lange jede Menge neuen Geldes in die Finanzmärkte strömt – wohl wissend, dass der trickle down effect noch nie wie verkündet funktioniert hat. FAIR-Teilung setzt daher richtigerweise an bei einer gerechte(re)n Steuerpolitik inkl. progressiver Vermögens- und Erbschaftssteuern – vorzugsweise in allen EU-Staaten und mit Mindestsätzen versehen … aus Wettbewerbsgründen. Selbstverständlich kann jedes Land für sich bestimmen, inwieweit es eine Ungleichverteilung von Chancen bietenden Vermögensverhältnissen aus DEMO-KRATIEpolitischen Gründen zulässt … eines bleibt gewiss: eine diesbezüglich versäumte Politik bleibt nicht ohne Konsequenzen.
Peter Nemschak
11. Januar 2017 @ 08:21
Der Vergleich zwischen den USA und Europa hinkt, vor allem, was die sozialen Unterschiede betrifft. Die Ungleichheit ist auch in Europa größer geworden, wird allerdings durch die wohlfahrtsstaatlichen Systeme stark gemildert. Statt dem ständigen sozialen Gejammer über vergangene Zeiten, wo alles angeblich besser war (war es natürlich nicht), sollten konkrete Wege gezeigt werden, wie das Modell Europa auch in Zukunft funktionieren kann. Gute Anregungen findet man auf http://www.querdenkereuropa.at.
Reinard
11. Januar 2017 @ 10:24
@Nemshak: Helfen Sie mir bitte: Welcher Vergleich hinkt?
Peter Nemschak
11. Januar 2017 @ 11:37
Hinsichtlich der sozialstaatlichen Leisteungen sind die USA nicht mit den meisten EU-Mitgliedern vergleichbar. Die sozialen Unterschiede sind in Europa auf Grund der Transferleistungen der Staaten geringer als in den USA. Das ist Tattsache, auch wenn Sie Ihnen persönlich nicht gefällt.
Oudejans
11. Januar 2017 @ 14:23
Nemschak, der Querdenker.