Gipfel der Verunsicherung


Wie schafft man es, einen EU-Gipfel so zu arrangieren, das sein Anlaß – die kriegstreiberische Politik der Türkei – in Vergessenheit gerät? Und wie lässt sich die Krise um den Rechtsstaat und das neue EU-Budget von der Tagesordnung verbannen? Kanzlerin Merkel will es am Donnerstag und Freitag versuchen.

„Volle Solidarität“ mit Griechenland und Zypern, aber keine neuen Sanktionen gegen die Türkei: Beim Sondergipfel am Donnerstag und Freitag will die EU eine Konfrontation mit dem schwierigen Nachbarn am östlichen Mittelmeer vermeiden.

Gipfelchef Charles Michel setzt auf einen „konstruktiven Dialog“ mit dem türkischen Präsidenten Recep Erdogan, wie es im Einladungsschreiben heißt.

Rückendeckung bekommt der liberale Belgier vom deutschen EU-Vorsitz. Die Spannungen wegen der umstrittenen türkischen Gasbohrungen hätten nachgelassen, hieß es vor dem Spitzentreffen in Berliner Regierungskreisen.

Griechenland habe sich zu Gesprächen mit der Türkei bereit erklärt, nun müsse nur noch das Problem mit Zypern gelöst werden. Das könnte jedoch schwierig werden.

Die Regierung in Nikosia fordert neue Türkei-Sanktionen – und blockiert längst überfällige Strafmaßnahmen gegen Belarus, um die EU zum Handeln zu zwingen. Deutschland lehnt eine Verknüpfung beider Themen jedoch strikt ab.

Die Lösung könnte ein Tagesordnungs-Trick bringen: Beim Gipfel wird am Donnerstag zuerst Belarus aufgerufen, erst beim Abendessen soll es dann um die Türkei gehen.

Neben Deutschland will auch Frankreich auf Zypern einwirken, damit es seinen Widerstand aufgibt und die Sanktionen zu Belarus mitträgt. Allerdings gibt es noch eine weitere offene Frage: Sollen die Strafen auch Präsident Alexander Lukaschenko treffen?

Darüber wurde bis zuletzt gerungen. Bisher stehen nur Schergen des Regimes auf der EU-Sanktionsliste, nicht aber ihr Chef.

Schwierige Debatten werden auch zu China und Russland erwartet. Die Bundesregierung erwartet beim Gipfel eine Verurteilung des Giftanschlags auf den russischen Oppositionspolitiker Alexej Nawalny.

Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron möchte jedoch weiter den Gesprächsfaden mit Präsident Wladimir Putin aufrecht erhalten. Deshalb dürften Sanktionen gegen Russland bei dem zweitägigen Treffen noch nicht zur Sprache kommen.

Mit Spannung wird erwartet, wie sich Ungarn und Polen bei dem Gipfel verhalten. Die EU-Kommission hatte beide Länder am Mittwoch wegen anhaltender Verstöße gegen den Rechtsstaat getadelt.

Merkel will Orban auflaufen lassen

Zudem wurden Budapest und Warschau in einer Abstimmung über mögliche Finanzsanktionen überstimmt. Ungarns Regierungschef Viktor Orban hatte zuvor mit einem Veto gegen das neue EU-Budget gedroht.

Beim Zusammentreffen mit Kanzlerin Angela Merkel könnte Orban nun erneut auf Konfrontationskurs gehen, fürchten EU-Diplomaten in Brüssel. Der deutsche EU-Vorsitz will den Streit über den Rechtsstaat und das Geld jedoch komplett ausblenden – und Orban auflaufen lassen.

Ob das klappt, ist unsicher – wie fast alles auf diesem Gipfel, der völlig aus der Zeit gefallen scheint. Der deutsche EU-Vorsitz hat mit seinem Agenda-Setting irgendwie keine glückliche Hand…

Siehe auch “Deutscher EU-Vorsitz: Freibrief für Erdogan” und “Agenda-Setting und Whataboutism”

P.S. Pünktlich zum EU-Gipfel hat Deutschland eine Reisewarnung für ganz Belgien erlassen. Streng genommen dürfte das Treffen also gar nicht in Brüssel stattfinden. Als “Kompromiss” hat man sich darauf geeinigt, die Journalisten auszuschließen. Wundern Sie sich also nicht, wenn es nur schöngefärbte Gipfelberichte gibt…