Wie Merkel das Türkei-Problem klein redet

Der Streit über die Türkei-Politik überschattet den EU-Gipfel, das Europaparlament nimmt den designierten Handelskommissar Dombrovskis ins Gebet – und Tschechien fordert eine Debatte über die Coronakrise: Die Watchlist EUropa vom 2. Oktober 2020.

Der deutsche EU-Vorsitz will um jeden Preis an engen Beziehungen zur Türkei festhalten, das ist bekannt. Weniger bekannt ist, wie Kanzlerin Merkel dabei vorgeht. Zunächst versucht sie, die Lage schön und die Probleme klein zu reden. Hier ein Auszug aus Merkels Presse-Statement zu Beginn des EU-Sondergipfels, bei dem es vor allem um die Türkei ging:

Wir sind Partner in der NATO. Wir sind aufeinander angewiesen, wenn es um reguläre Migration und Unterstützung der Türkei bei der Frage der vielen Flüchtlinge, die die Türkei aufnimmt, geht. Und wir müssen die Spannungen im östlichen Mittelmeer und in der Ägäis natürlich beheben. Und für mich spielt hier die Diplomatie eine herausragende Rolle.   

Merkel betont also die Diplomatie. Das kommt immer gut an, vor allem in Deutschland. Dass sich neuerdings auch Präsident Erdogan zu Verhandlungen bereit erklärt, kommt ihr zupaß.

Doch es geht ja nicht nur um die Gasbohrungen vor den Küsten Griechenlands und Zyperns. Es geht auch darum, dass Erdogan die Bohrungen von Anfang an militärisch organisiert hat – wie ein Beutezug in fremden Gewässern.

Es handelt sich eben nicht um harmlose Gasbohrungen, sondern um militärisch vorgetragene Gebietsansprüche. Dazu sagt Merkel nichts. Sie versucht, das Problem zu beschönigen und die Kriegsgefahr zu verdrängen.

Die zweite Strategie besteht darin, das imperiale Gehabe Erdogans auf ein Zypern-Problem zu reduzieren. Eine kleine, unbedeutende und noch dazu starrsinnige Insel wolle die große EU aufhalten, heißt die Botschaft.

Dazu verweist Merkel neuerdings gern auf die Gespräche, die mit Griechenland angelaufen sind – nach dem Motto: Ihr Zyprioten seid jetzt ganz allein. Es ist eine klassische „Divide et impera“-Strategie.

Doch das ist noch nicht alles. Merkel blendet auch systematisch den internationalen Kontext aus. Syrien, Irak, Libyen – und nun auch noch Nord-Karabach: nichts von all dem wird erwähnt.

Merkel unterschlägt ebenfalls, dass es nicht allein Zypern ist, das neue Sanktionen gegen die Türkei fordert. Auch Griechenland und Österreich unterstützen diese Forderung – ebenso wie die konservative EVP, der CDU und CSU angehören.

Bloß nicht über Sanktionen reden

All das wird ausgeblendet. Selbst ein umfangreiches Sanktionspapier, das der EU-Außenbeauftragte Borrell erarbeitet hat, wird unter den Tisch gekehrt. Wer Merkel zuhört, muß den Eindruck gewinnen, es existiere überhaupt nicht!

Beim EU-Gipfel führte diese Strategie am Donnerstag jedoch in die Sackgasse. Griechenland und Zypern wiesen zwei Beschlußentwürfe zurück, in denen mögliche EU-Sanktionen nur verschämt angedeutet wurden.

Sie forderten, Erdogan explizit in die Schranken zu weisen – und nicht nur zwischen den Zeilen. Dagegen stemmte sich – wer wohl? Merkel! Ergebnis: Um Mitternacht war immer noch keine Lösung gefunden…

Siehe auch „Gipfel der Verunsicherung“

P.S. Zu diesem Beitrag gibt es ein UPDATE, er steht hier

Watchlist

Was plant der neue EU-Handelskommissar Dombrovskis? Will er den USA entgegenkommen, um ein neues „TTIP light“ auszuhandeln? Dies ist nur eine der Fragen, die das Europaparlament bei der Anhörung dessen Letten am Freitag aufwerfen dürfte. Auch die Irin McGuiness wird befragt – sie soll die Finanzdienstleistungen übernehmen, die vorher Dombrovskis betreute. Nötig wurde all das durch den Rücktritt von Handelskommissar Hogan. Er hatte irische Corona-Regeln mißachtet…

Was fehlt

Die neue Volte im Brexit-Streit. Die EU-Kommission hat rechtliche Schritte gegen Großbritannien wegen Verletzung des Austrittsvertrags eingeleitet. Damit will sie London zum Rückzug des umstrittenen Binnenmarktgesetzes für Nordirland zwingen. Gleichzeitig will Brüssel aber weiter über ein neues Freihandelsabkommen verhandeln. Wie das zusammenpasst? Gar nicht. Irgendjemand wird am Ende klein bei geben müssen…

Das Letzte

Der EU-Gipfel will nicht über die Coronakrise sprechen – dabei spitzt die sich gerade in vielen Ländern zu. Das ärgert Tschechiens Ministerpräsident Andrej Babis. „Wir haben viele wichtige Themen auf dem Programm, aber wir haben vergessen, das wichtigste auf das Programm zu setzen. Für mich ist das die Covid-19-Pandemie“, sagte er in Brüssel. Dabei hatte Kanzlerin Merkel doch eine deutsche „Corona-Präsidentschaft“ versprochen…

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