Showdown um Taxonomie, Handelskrieg um Nordirland – und SPD hofiert Ukraine
Die Watchlist EUropa vom 14. Juni 2022 –
Hochspannung im Europaparlament: Die Abgeordneten könnten das umstrittene Nachhaltigkeitslabel für Atomkraft und Gas stoppen. Gleich zwei Parlamentsausschüsse stimmen am Dienstag über die sog. Taxonomie ab, die die EU-Kommission vorgeschlagen hat. Darin werden Atom und Gas für „nachhaltige“ Geldanlagen empfohlen.
Gegen diese Empfehlung laufen Atomkraftgegner, Klimaschützer und Grüne seit Monaten Sturm. Im Rat, der Vertretung der 27 EU-Länder, haben sie keine Chance: Dort ist eine Mehrheit für den Kommissionsvorschlag sicher. Frankreich hat ganze Arbeit geleistet und genügend Anhänger der Atomkraft um sich geschart.
Nur das Europaparlament könnte die Taxonomie noch verhindern. Dafür braucht es im Plenum eine absolute Mehrheit mit 353 Stimmen. Bisher zählen die Gegner aber nur rund 200 Stimmen, neben den Grünen sind auch deutsche Sozialdemokraten und Linke zu einem „Nein“ entschlossen. Weitere 200 Abgeordnete haben sich noch nicht festgelegt.
“Es wird eine enge Abstimmung”
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Anders ist die Lage im Umwelt- und Industrieausschuss, die am Dienstag in Brüssel tagen. Dort halten sich Anhänger und Gegner der Taxonomie ungefähr die Waage. „Es wird eine enge Abstimmung“, hieß es vor den entscheidenden letzten Beratungen bei den Grünen im Europaparlament. Sogar die EU-Kommission werde nervös.
Der Abstimmung kommt Signalwirkung zu – bei einem „Nein“ könnte auch die Stimmung im Plenum kippen, das Anfang Juli in Straßburg tagt. Zuletzt hatten sich die Fronten verhärtet. Angesichts des Krieges in der Ukraine und des Embargos auf Kohle und Öl aus Russland könne man nicht auch noch auf Atomkraft verzichten, so die Anhänger der Taxonomie.
“Letzter Weg aus der Sackgasse”
Genau andersherum argumentieren die Gegner. „Europas Energieabhängigkeit zu Russland fällt uns gerade massiv auf die Füße“, sagt Michael Bloss, klimapolitischer Sprecher der Grünen. Die EU müsse schnellstmöglich raus aus Gas und Atom und massiv in Erneuerbare investieren, um neue Abhängigkeiten zu vermeiden.
Dies fordert auch der World Wildlife Fund for Nature. Die Abstimmung im Europaparlament sei der „letzte Weg aus der Sackgasse“, sagt WWF-Finanzexperte Matthias Kopp. Der Finanzmarkt werde kein Vertrauen in die Taxonomie entwickeln und nicht genug Geld in den nachhaltigen Umbau lenken. Dies müssten die Abgeordneten verhindern.
Allerdings ist auf das Europaparlament kein Verlaß mehr. Bei der ebenfalls umstrittenen Abstimmung über den Emissionshandel vor einer Woche kam es zum Patt, die Reform fiel durch, ein Kompromiss ist nicht in Sicht…
Siehe auch “Das Parlament blamiert sich beim Emissionshandel”
Die Watchlist
Kommt nun der (lange angekündigte) Handelskrieg mit Großbritannien? Premier Johnson will die mit Brüssel vereinbarte Brexit-Regelung für Nordirland einseitig ändern. Außenministerin Truss stellte am Montag in London einen entsprechenden Gesetzesentwurf vor. Dieser liefere eine “vernünftige, praktische Lösung für die Probleme in Nordirland” und verstoße nicht gegen internationales Recht, versicherte sie. Die EU-Kommission reagierte mit scharfer Kritik. Brüssel nehme die die Entscheidung der britischen Regierung “mit großer Sorge” zur Kenntnis, erklärte Kommissionsvize Sefcovic. Brüssel erwägt nun rechtliche Schritte – dabei ist London doch ein “Alliierter” im Ukraine-Krieg…
Was fehlt
Der SPD-Schwenk zur Ukraine. Bisher standen die Genossen dem EU-Beitritt skeptisch gegenüber. Doch bei einem Besuch in Brüssel forderte SPD-Chef Klingbeil ein positives Zeichen Richtung Kiew. Er halte es für wichtig, “dass es ein klares politisches Signal gibt an die Ukraine, dass wir deutlich machen, sie kämpfen dort gerade in diesem Krieg für unsere Werte und wir wollen sie in der Europäischen Union haben”, sagte Klingbeil. Woher der plötzliche Sinneswandel kommt, ist unklar. Sonderlich populär ist er nicht – nach einer Umfrage ist fast jeder zweite Deutsche gegen einen Ukraine-Beitritt… – Mehr zum Streit um den EU-Beitritt hier
european
14. Juni 2022 @ 08:50
Ich kann mir den SPD Schwenk nur damit erklären, dass die Industrie wieder mal Fachkräftemangel schreit.
Habeck hat dieser Tage doch auch schon darüber philosophiert, wie man mit den ukrainischen Flüchtlingen die Lücken stopfen könnte.
Damit würde die Ukraine das Schicksal aller osteuropäischen EU Länder teilen. Brain drain im grossen Stil. Siehe Bulgarien, das Land mit der groessten Abwanderung der Welt. Siehe Rumänien, das bisher allein 17000 Ärzte durch Abwanderung verloren hat usw usw.
Der Beitritt der Ukraine ist ansonsten vdL persönlicher Ehrgeiz, jenseits von politischer Vernunft, oekenomischem Sachverstand und Weitblick über die Konsequenzen.
ebo
14. Juni 2022 @ 09:14
Nein, das ist zu ökonomisch gedacht. Es geht um die europäischen Werte – sie glauben wirklich, dass diese in der Ukraine verteidigt werden…
european
14. Juni 2022 @ 19:39
@ebo
Dieser Gedanke hat sich doch spätestens beim Hindukusch, wo bekanntermaßen auch unsere westlichen Werte verteidigt wurden, als völlig absurd herausgestellt.
Alexander
14. Juni 2022 @ 08:23
Und zur “Taxonomie”:
“Russia holds 46 percent of uranium enrichment capacity. The vast majority of the 439 reactors around the world require enriched uranium fuel, including all reactors in the U.S. fleet.”
“The stark reality is that if Russia stopped delivery of enriched uranium to U.S. power companies, the U.S. could see impacts on reactor operation possibly this year or next. That could lead to reactor outages,”
https://thehill.com/opinion/energy-environment/3519264-whats-at-risk-due-to-russias-nuclear-power-dominance/
Ich frage mich ohnehin, weshalb Russland noch Handelsbeziehungen zu Staaten unterhält, die erklärt haben, Russland ruinieren zu wollen und die Waffen liefern, damit möglichst viele russische Soldaten getötet werden! Sollte an dem Gerücht mit dem 30.9. etwas dran sein, dann könnte sich das aber bald erledigt haben …
Alexander
14. Juni 2022 @ 08:05
“, sie kämpfen dort gerade in diesem Krieg für unsere Werte”
Die ukrainische Armee verübt seit ein paar Tagen blindwütige Terrorangriffe auf Donetsker Wohngebiete, in denen sich nur Zivilisten aufhalten. Ein klares Kriegsverbrechen!
Außerdem sollen Militäreinheiten der Ukraine in Severodonetsk 500 Zivilisten als Geiseln genommen haben. Darunter 40 Kinder.
Wenn der Herr Klingbeil von der Noske-Partei bei den Hakenkreuztätowierten trotzdem westliche Werte erspäht, dann bleibt mir nur noch, auf eine beschleunigte Kontinentaldrift zu hoffen!