Merkels sieben Sünden – Teil 4: Die Austeritätspolitik

Wie fällt die Bilanz von Kanzlerin Merkel in der Europapolitik aus? Die Erfolge werden breit gewürdigt – wir wollen uns daher auf die Misserfolge und Sünden konzentrieren. Teil 4: Die Austeritätspolitik.

Austerität – was soll das denn sein? Auch zum Ende der Merkel-Ära ist dieser Begriff in Deutschland verpönt. Die deutschen Medien sprechen, wenn sie die harte Linie der Kanzlerin in der Eurokrise überhaupt noch aufgreifen, unverdrossen von „Sparkurs“.

„Was soll am Sparen falsch sein“, fragte die FAZ auf dem Höhepunkt der Krise 2015. Austeritätspolitik sei negativ konnotiert, obwohl sie doch unverzichtbar sei.1 Diese Einschätzung wird von der Mehrheit der deutschen Ökonomen und Journalisten geteilt.

Sie entspricht der ordoliberalen Tradition der deutschen Wirtschaftswissenschaft – aber auch der ausgeprägten Neigung vieler Journalisten, der Bundesregierung in Fragen der Europapolitik weitgehend kritiklos zu folgen.

Dabei gehört die Austeritätspolitik zweifellos zu den größten Sünden der Kanzlerin in der Europapolitik. Dies ist in der Literatur mittlerweile unbestritten – wer es immer noch nicht glauben will, sollte A. Tooze’s Standardwerk „Crashed“ lesen.2

Der deutsche „Sparkurs“ richtete nicht nur in Griechenland große wirtschaftliche Schäden an und löste politische Verwerfungen aus, die zum Sieg der Linken und beinahe auch zum Rauswurf aus dem Euro (dem Grexit) geführt hätten.

Er führte auch dazu, dass die Eurozone später als die USA oder UK aus der Finanzkrise kam und das Wachstum lange schwächelte. Der frühere EU-Kommissionsberater P. Legrain spricht von „zehn verlorenen Jahren“.3

Doch das ist noch nicht alles. Merkel sorgte auch dafür, dass das EU-Budget gekürzt wurde. Gemeinsam mit ihrem damals engsten Partner, dem britischen Ex-Premier D. Cameron, hat sie verhindert, dass Brüssel für immer mehr Aufgaben auch mehr Geld bekam.

Doch der vermeintliche Erfolg bei den EU-Budgetverhandlungen 2013, der für Knappheit im Finanzrahmen 2014-2020 sorgte, hat sich als Bumerang erwiesen. Drei Jahre später verlor Merkels Freund Cameron das Brexit-Referendum.

Durch Sparen zum Brexit?

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Auch der Brexit sei eine direkte Folge der Austeritätspolitik, schrieb der „Guardian“ 2020.4 Diese These ist zwar bis heute umstritten. Klar ist jedoch, dass Merkel und Cameron alles taten, um die EU kurz zu halten – das Ergebnis war eine Katastrophe.

Cameron trat nach dem verlorenen Referendum zurück, Merkel hat nie Konsequenzen gezogen. Noch bei den EU-Bugetverhandlungen Anfang 2020 stand sie erneut auf der Bremse – zusammen mit den „Frugal four“ wollte sie den Haushalt 2021-2027 kürzen.

Und noch nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie stemmte sie sich gegen zusätzliche Ausgaben. Erst als sich neun EU-Staaten unter Führung Frankreichs gegen Deutschland stellten, lenkte sie ein und machte eine gemeinsame Schuldenaufnahme möglich.

Die EU in der Schuldenfalle

So entstand der Corona-Aufbaufonds – die „Next Generation EU“. Doch das reguläre, beitragsfinanzierte Sieben-Jahres-Budget wurde erneut gekürzt, Deutschland hat sich sogar noch einen Rabatt gesichert. Der Sparkurs geht weiter – obwohl die EU nun noch mehr Aufgaben hat.

Auf Dauer kann das nicht gut gehen. Wenn der Aufbaufonds ausläuft – womöglich schon 2023 – und die Schulden zurückgezahlt werden, muß die EU wieder den Gürtel enger schnallen. Wenn dann auch noch der Stabilitätspakt wieder in Kraft gesetzt wird, droht eine Austeritätspolitik 2.0

Dann wird sich zeigen, ob Merkels Roßkur die EU wirklich „gerettet hat“ – oder ob Griechenland, Italien oder sogar Frankreich in die Bredouille kommen. Die EU sitzt in der Schuldenfalle, die Austeritätspolitik droht zur Belastung für künftige Generationen zu werden…

Teil eins der Serie „Die verschleppten Krisen“ steht hier. Mehr zu Merkel hier

Literatur:

1 E. Bonse: Kampf um die Deutungshoheit. In: Sturm R., Griebel T., Winkelmann T. (eds) Austerität als gesellschaftliches Projekt. Studien der Bonner Akademie für Forschung und Lehre praktischer Politik. Springer VS, Wiesbaden 2017. https://doi.org/10.1007/978-3-658-17461-3_8

2 A. Tooze: Crashed, Penguin 2018

3 P. Legrain: European Spring: Why Our Economies and Politics are in a Mess – and How to Put Them Right, CB Books 2014

4 siehe auch Austerity Caused Brexit, Institute of New Economic Thinking, 02.08.2018

Mehr Bücher zum Thema:

M. Blyth: Austerity. The history of a dangerous idea. Oxford University Press 2013

W. Streeck: Gekaufte Zeit, Suhrkamp 2013

Y. Varoufakis: Adults in the Room, The Bodley Head 2017

L. Van Middelaer: Quand L’Europe improvise, Gallimard 2017

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