Marktkonforme Demokratie (ist auch Mist)
Nach sanftem, aber unmißverständlichen Druck aus Deutschland bekommt Italien eine neue „Technokraten“-Regierung. Die von den europäischen Eliten gesteuerte – pardon: „marktkonforme“ – Demokratie bleibt damit bis auf Weiteres erhalten – doch richtig zufrieden ist damit niemand, nicht einmal die Märkte.
Dabei weiß der neue Regierungschef Cottarelli nun wirklich, was die Anleger (darunter auch viele Italiener!) wünschen.
Er war bis 2013 ranghoher Mitarbeiter des IWF und anschließend Sparkommissar der italienischen Regierung. In dieser Zeit handelte er sich wegen seiner Budgetkürzungen den Spitznamen „Herr Schere“ ein.
Aus Brüsseler Sicht ist er eine ideale Wahl – denn auch die EU-Kommission empfiehlt Rom regelmäßig neue Einschnitte, um den hohen Schuldenberg abzutragen. Allerdings birgt eine „technische Regierung“ auch Risiken.
Dies musste schon der frühere EU-Wettbewerbskommissar Monti erfahren. Er hatte die italienische Regierung 2011 übernommen, nachdem Premierminister Berlusconi nicht zuletzt auf Druck aus Berlin zurückgetreten war.
Doch trotz harter Sparmaßnahmen gelang es „Mighty Monti“ nicht, das Land nachhaltig zu sanieren. Seinen Nachfolgern Letta und Renzi, die im Kern denselben Kurs verfolgten, ging es nicht viel besser.
Viele Italiener empfinden eine von „neutralen“ Experten geführte Regierung seither als Zumutung. Bei den für Herbst geplanten Neuwahlen könnten die EU-Gegner daher weiter zulegen, fürchtet man in Brüssel.
Viel mehr als eine willkommene Atempause ist die Nominierung von Cottarelli daher wohl nicht. Dies zeigt auch die Reaktion der Finanzmärkte – sie sind alles andere als begeistert.
Die politische Wende in Rom sorgte am Montag nur zu Handelsbeginn kurz für etwas Entspannung an den Börsen. Bis zum Mittag trübte sich die Stimmung aber erneut stark ein.
Die Renditen von italienischen Staatsanleihen – ein Maß für die Risikowahrnehmung – stiegen wieder an. Demgegenüber sind deutsche Anleihen gefragter denn je. Sie gelten als besonders sicher.
Das sind sie aber nicht – wenn das Schuldenproblem nicht gelöst wird. Man kann zwar eine Zeitlang die Demokratie aushebeln, doch die Schulden bleiben. Ohne Wachstum werden es sogar noch mehr!
Und Italien ist nicht Griechenland – hier glaubt niemand an die deutsche Mär, dass die Schuldenberge schon irgendwie abgestottert werden können, bis 2060 oder so…
Siehe auch Deutschland – Italien 1:0 und „Italien hielt gut mit – bis 2009“
WATCHLIST:
- Das Europaparlament tagt wieder in Straßburg. Auf dem Programm: Eine Debatte über die Finanzplanung 2021- 2027 und eine weitere zur Revision der Entsenderichtlinie. Bei den Finanzen dürfen wir uns auf Streit einstellen (vermutlich bis 2020), bei der Entsenderichtlinie auf viel Eigenlob und die endgültige Verabschiedung. Auch da hat es Jahre gedauert…
- Die Reform der Kohäsionsfonds. Eigentlich sollen sie dazu beitragen, dass arme und reiche Regionen in der EU zusammenwachsen. Doch dank Kanzlerin Merkel sollen sie nun auch zur Förderung von Flüchtlingen beitragen. Motto: Mehr Migranten, mehr Geld. Dies könnte zu Lasten osteuropäischer Staaten gehen, die die Aufnahme verweigern.
WAS FEHLT?
- Der letzte (Plastik-)Strohhalm. Ein Jahr vor der Europawahl gibt sich die EU von ihrer „bürgernahen“ Seite. Grillfeste mit Plastiktellern sollen der Vergangenheit angehören. Wir sollen es machen wie „unser“ Kommissar Oettinger, der sein „Saitenwürstchen (?) immer auf dem Papierteller gegessen“ haben will. Toll! Ich empfehle diesen Beitrag vom Oxiblog!
Oudejans
30. Mai 2018 @ 01:18
„He wants the parties to seek an explicit mandate to return to the Lira. Such is the importance of the decision that Italians have to take it openly.“
https://twitter.com/FerdiGiugliano/status/1001113411885858817
So gesehen hätte Deutschland seit geraumer Zeit eine populistische Regierung.
Peter Nemschak
30. Mai 2018 @ 10:42
Ihr Vergleich hinkt. Deutschland ist mit oder trotz der DM wirtschaftlich gut gefahren. Italien hat auch die Lira trotz wiederholter Abwertungen nicht geholfen. Das Nord-Süd-Problem konnte Italien seit dem Zweiten Weltkrieg nicht lösen. Ebenso wenig konnte das Land ein funktionierendes und integres parlamentarisches Regierungssystem aufbauen. Wieso die EU daran schuld sein soll, erschließt sich intelligenten Bürgern nicht?
Peter Nemschak
29. Mai 2018 @ 10:42
@ebo nicht vor der Demokratie aber der Unvernunft großer Teile des Volkes, welche Populisten an die Macht wählen. Der track record der Völker war, was das Ergebnis betrifft, in der Geschichte eher durchwachsen. Daher gibt es die checks and balances der Institutionen der repräsentativen liberalen Demokratie. Jene, welche nach mehr direkter Demokratie rufen, wollen sich damit nicht abfinden.
Peter Nemschak
29. Mai 2018 @ 07:58
Ist nicht-marktkonforme Demokratie besser? Die Menschen wollen ihr materielles Wohlergehen maximieren. Das mag manche Moralisten – „der Mensch lebt nicht von Brot allein“ – stören, ist aber Faktum. Wir leben in einer postmaterialistischen gleichzeitig hedonistischen Gesellschaft. Manche Demokratievorstellungen ähneln eher einer Volksdiktatur als einer liberalen Demokratie.
ebo
29. Mai 2018 @ 09:00
Sie haben die Ironie nicht verstanden. Die Märkte selbst zweifeln daran, dass der Kandidat der marktkonformen Demokratie Abhilfe schafft. Dieser Begriff ist natürlich von Kanzlerin Merkel, die die Probleme bekanntlich vor sich herschiebt – „kicking the can down the road“…
Peter Nemschak
29. Mai 2018 @ 09:12
Die Märkte fürchten die nächste unausweichliche Wahl.
ebo
29. Mai 2018 @ 09:39
Also fürchten sie die Demokratie!?
Dixie Chique
29. Mai 2018 @ 11:31
Die „Märkte“ hassen die Demokratie.
Oudejans
29. Mai 2018 @ 20:12
>>“Wir leben in einer postmaterialistischen gleichzeitig hedonistischen Gesellschaft.“
Sehr richtig. Würden Vorstandsgehälter bar ausgezahlt, würde der karge Wohnraum mit Kisten voller Papier verschandelt. Mit mit Geldscheinen vollgemüllten Messiebuden sammelt bei Instagram niemand postmaterialistischen Lorbeer.
Daher der Siegeszug der Verzichtskultur.
Oder nehmen Sie Hartz: nie ist der deutsche Sozialfall umsichtiger, wertschätzender, ja, zärtlicher mit dem raren Steuereuro verfahren als heute. Ohne solide postmaterialistische Grundierung – undenkbar.