Die Ukraine und die Neocons
Russland hat die Ukraine überfallen, keine Frage. Doch der Überfall hat eine lange Vorgeschichte. Die Neocons in den USA betreiben bereits seit den 70er Jahren die Expansion der amerikanischen Einflusszone nach Osteuropa. Den Krieg nahmen sie bewußt in Kauf.
Darauf weist der US-Ökonom J. Sachs in einem wichtigen Essay hin, der nun auch in deutscher Übersetzung vorliegt. Sachs war Berater für den IWF, die Weltbank, die OECD, die WTO und das UNDP und auch an der neoliberalen „Transformation“ der Ex-Sowjetunion beteiligt.
Hier seine starke These:
Der Krieg in der Ukraine ist der Höhepunkt eines 30-jährigen Projekts der amerikanischen neokonservativen Bewegung (Neocons). In der Regierung Biden sitzen dieselben Neokonservativen, die sich für die Kriege der USA in Serbien (1999), Afghanistan (2001), Irak (2003), Syrien (2011) und Libyen (2011) starkgemacht und die den Einmarsch Russlands in die Ukraine erst provoziert haben.
Quelle: Berliner Zeitung
Ich empfehle diesen Beitrag nicht etwa, weil ich mit allem übereinstimmen würde – sondern, weil Sachs die historische und geopolitische Dimension des Kriegs in der Ukraine aufzeigt. Die sog. „Zeitenwende“ kam nicht über Nacht, und sie wurde nicht nur in Moskau vorbereitet.
Doch das wollen die neuen „Geopolitiker“ in Brüssel und Berlin nicht sehen. Sie machen ihre Politik, ohne die geopolitische – also weltweite – Dimension der US-Politik und ihrer neokonservativen Vordenker zu verstehen – und drohen deshalb zu scheitern.
Den Preis wird die EU und insbesondere Deutschland zahlen, wie wir in der Gas-Krise bereits sehen..
Mehr zum Krieg in der Ukraine hier
Alexander
5. Juli 2022 @ 14:01
Eine für Twitter-Verhältnisse recht ausführliche Kommentierung einer Pompeo-Rede:
https://twitter.com/GonzaloLira1968/status/1544238104869048320
Ich denke, es ist keine Zeitverschwendung, die Zeilen zumindest zu überfliegen!
ebo
5. Juli 2022 @ 21:08
Danke, die Lektüre lohnt sich wirklich. Pompeo bestätigt meine These, dass die USA vor allem deshalb so hart reagieren, weil sie in der Ukraine ein Vorspiel für Taiwan sehen und sich auf Krieg gegen China vorbereiten. Nebenbei werden Deutschland und Frankreich abgewatscht, und Selenskyj wird zum neuen George Washington erklärt. Ob das schon jemand in Berlin odeer Paris gelesen hat?
european
4. Juli 2022 @ 21:01
@ebo
„Doch das wollen die neuen “Geopolitiker” in Brüssel und Berlin nicht sehen.“
Was mich an diesen Dingen tatsächlich verzweifeln lässt ist, dass nichts davon ein Geheimnis ist. Die Informationen sind frei verfügbar im Netz erhältlich und selbst wenn die Granden nicht eigenhändig Recherche betreiben wollen, so findet sich bestimmt jemand im Mitarbeiterstab, den man damit mal beauftragen kann. Die Spatzen pfeifen es doch von den Dächern.
Operation Hufeisen im Kosovo, weapons of mass destruction, nicht zu vergessen sämtliche Regimechange-Aktionen der letzten Jahre, Afghanistan, Libyen, Irak, Ägypten, der Vietnamkrieg, bis hin zum Sturz von Mossadegh zieht sich eine Spur von Blut, Gewalt und Intrigen durch die jüngste US-amerikanische Geschichte. Genügend Stoff, um zumindest ein gesundes Misstrauen an den Tag zu legen.
Was soll man dazu noch sagen?
Alexander
4. Juli 2022 @ 18:40
Eine weitere Wortmeldung:
„Avoiding a Russian Quagmire, the Improbable Ukrainian Peace, and the Risk of Direct Russo-NATO War“
https://gordonhahn.com/2022/06/30/avoiding-a-russian-quagmire-the-improbable-ukrainian-peace-and-the-risk-of-direct-russo-nato-war/
Alexander
4. Juli 2022 @ 19:26
Und noch eine:
‚One risk of making your rivals’ wars more costly is that you just might make their eventual victory even larger. If the Ukrainian army fails to make a crucial strategic retreat, and is broken in the cauldrons of the Donbas, the United States will have made Russia’s victory much costlier, but also much more significant than it otherwise would have been. Putin will be able to claim he defeated not just the nationalists in Ukraine, but the Western powers that funded and trained their army from 6,000 to nearly half a million men. After the humiliation in Afghanistan, it would be the second massive U.S.-funded and trained army to be defeated in the space of two years. That is the real risk we are taking. And it’s not one that is going to leave NATO “reinvigorated” in the end. More like panicked and on the run.‘
https://www.nationalreview.com/2022/06/how-to-lose-big-in-ukraine/amp/
Dorothea
7. Juli 2022 @ 01:33
Ich meine, sie sehen es, wollen aber nicht, dass der gemeine Bürger es sieht!
Martin Hutter
4. Juli 2022 @ 17:59
Hallo
In Sachs‘ Artikel hat sich ein Fehler eingeschlichen – offenbar auch in der deutschsprachigen Version. Der beruechtigte urspruengliche Entwurf der „Defense Planning Guideline“ wurde im Februar 1992 (nicht 2002!) fertiggestellt und gelangte postwendend an die New York Times, wo er abschnittweise veroeffentlicht wurde (das Ding umfasst 97 Seiten). Das Dokument entfachte eine aufgeregte öffentliche Auseinandersetzung um amerikanische Außen- und Verteidigungspolitik und wurde damals noch weithin als geradezu „imperialistisch” abgelehnt. Warum?
Es beschrieb unter anderem eine unilateralistische Außenpolitik und befürwortete vorgreifende (preemptive) militärische Interventionen, um potentielle Gefährdungen durch andere Nationen zu unterbinden und aufstrebende Machthaber daran zu hindern, Supermachtstatus zu erreichen. So laut war der öffentliche Aufschrei, dass das Papier schleunigst überarbeitet werden musste, was unter der Fuchtel von Verteidigungsminister Dick Cheney höchstpersönlich geschah und sich in einer am 16.April 1992 vorgestellten, oberflaechlich „entschärften” Fassung präsentierte.
So hieß es zum Beispiel in der ursprünglichen Fassung zum Supermachtstatus (mit klarer Zielrichtung: Russland):
Unser erstrangiges Ziel ist es, das Wiederstehen eines neuen Widersachers zu verhindern, sei es auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion oder sonst irgendwo, der eine Gefahr in der Größenordnung derjenigen bilden könnte wie die ehemalige Sowjetunion sie darstellte. Dies ist eine beherrschende Überlegung unter der neuen regionalen Verteidigungsstrategie und erfordert, dass wir uns anstrengen, jedwede feindselige Macht daran zu hindern, eine Region zu beherrschen, deren Ressourcen ausreichen würden, einen globalen Machtfaktor zu bilden. [Eigene Übersetzung]
Wer sich fuer diese Vorgaenge interessiert und Englisch lesen kann, sollte sich folgenden Artikel downloaden:
Zalmay Khalilzad: Was the Iraq War Conceived in a Secret 1992 Document? The 1992 Defense Planning Guidance’s Ties to the 2003 Iraq Invasion. The National Interest, April 18, 2016. (https://nationalinterest.org/print/feature/was-the-iraq-war-conceived-secret-1992-document-15811).
Zalmay Khalilzad, der für US Undersecretary of Defence for Policy, Paul Wolfowitz, und seinen Stellvertreter, Scooter Libby, arbeitete, entwarf die ursprüngliche Version eines Strategiepapiers, die Defense Planning Guidance for the 1994–99 fiscal years.
Und der Autor des Entwurfs und dieses Artikels bemerkt ergänzend zu obigem Aspekt:
Die DPG [Defense Planning Guidance] wollte das Entstehen von Zweipoligkeit, eine andere globale Rivalität wie im Kalten Krieg, Multipolarität, einer Welt mehrerer Großmächte wie sie vor den Weltkriegen bestand, ausschließen. Der Schlüssel hierzu war, eine feindselige Macht daran zu hindern, eine wichtige Region (critical region) zu beherrschen, deren Ressourcen, industrielle Kapazitäten und Bevölkerungszahl diese Macht zu einer globalen Herausforderung machen könnte. [Eigene Übersetzung]
Amerika zuoberst und keiner vergreife sich an der bestehenden politisch-ökonomischen Weltordnung:
Die USA müssen die notwendige Führungsstärke zeigen, um eine neue Ordnung zu errichten und zu schützen, die verspricht, potenzielle Konkurrenten zu überzeugen, dass sie keine größere Rolle anstreben oder eine aggressivere Haltung einnehmen sollten, um ihre legitimen Interessen zu schützen. In Nichtverteidigungsbereichen müssen wir die Interessen der fortgeschrittenen Industrienationen ausreichend berücksichtigen, um sie davon abzuhalten, unsere Führung herauszufordern oder zu versuchen, die etablierte politische und wirtschaftliche Ordnung zu stürzen. Wir müssen den Mechanismus aufrecht erhalten, um potenzielle Konkurrenten davon abzuhalten, eine größere regionale oder globale Rolle auch nur anzustreben. [eigene Übersetzung]
Die USA hält sich für verantwortlich dafür, dass überall eingeschritten wird, wo ihre Interessen oder die ihrer Alliierten bedroht sein könnten:
Wiewohl die USA nicht zum allzuständigen Weltpolizisten werden können, bewahren wir die vorrangige Verantwortung für den Umgang mit solchen ausgewählten Missständen, die nicht nur unsere Interessen, sondern auch die unserer Verbündeten oder Freunde bedrohen oder die die internationalen Beziehungen ernsthaft erschüttern könnten. [Eigene Übersetzung]
Die damalige Wolfowitz-Doktrin mit der ihr zu Grunde liegenden DPG von 1992 wurde keineswegs eingestampft nach 1999. Die meisten ihrer Inhalte speisten die außenpolitischen Aufführungen sowohl der Clinton-Administration als auch die von George W. Bush (der Sohn). Bereichert seit 2001 um die Direktiven zum weltweiten war on terror lebt sie als Bush-Doktrin fort und was seit 30 Jahren in der Ukraine läuft, zeigt unmissverständlich ihre fortdauernde Geltung für das was Uncle Sam in fernen Landen zu tun für berechtigt, ja geradezu verpflichtet hält.
Ein paar Kostproben aus dem fact sheet des U.S. Department of Defense zur kürzlich dem Congress zugeleiteten (und natürlich geheimen) “2022 National Defense Strategy (NDS)” mögen das bestätigen.
Defense priorities sind u.a.: 1. Verteidigung des Heimatlandes angesichts der wachsenden Multi-Domain-Bedrohung durch die VR China (Defending the homeland, paced to the growing multi-domain threat posed by the PRC); 2. Abschreckung von strategischen Angriffen gegen die Vereinigten Staaten, Verbündete und Partner (Deterring strategic attacks against the United States, Allies, and partners); 3. Abschreckung von Aggressionen bei gleichzeitiger Bereitschaft, sich bei Bedarf in Konflikten durchzusetzen, Priorisierung der PRC-Herausforderung im Indopazifik, dann der Russland-Herausforderung in Europa (Deterring aggression, while being prepared to prevail in conflict when necessary, prioritizing the PRC challenge in the Indo-Pacific, then the Russia challenge in Europe).
P.S. Wie Zalmay Khalilzad in seinem Artikel saeuerlich bemerkt, war der damalige Senator Joe Biden gegen die Annahme des urspruenglichen Papiers!
Schoenen Gruss aus Suedafrika, Martin Hutter
ebo
4. Juli 2022 @ 18:52
Danke für die spannende Expertise!
Pjotr56
4. Juli 2022 @ 17:49
@ebo
Nach den mir vorliegenden Informationen ist die von dir zitierte These von Sachs eine Tatsachenbeschreibung. Die Deutschen sind inzwischen leider medial derartig verblödet (vgl. Peter Scholl-Latour), dass sie eine Neuauflage von „Seit 5:45 Uhr wird zurück geschossen“ schlucken, und dadurch ihren wirtschaftlichen Niedergang riskieren. Die 14.000 Toten im Osten der Ukraine seit 2014 bis zu russischen Intervention und alle weiteren gehen ihnen quasi am Arsch vorbei. Viel erlebt, nichts begriffen.
Udo
4. Juli 2022 @ 19:52
Leider , leider!
Aus eigenem Erleben-Deine Einschätzung stimmt zu einem erschreckend hohen Teil. Ursache und Wirkung , erst recht die Priorität derer, werden von der Propaganda bewusst nicht thematisiert.
Aber wenn man bedenkt, dass >80 % der Redaktionsstuben rot/grün besetzt sind, wen wundert es dann.
Hinzu kommt die lange und ausdauernde Einflussname aus Übersee.
Wir sind eine ,,Bananenrepublik“.
Eine Studie des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages vom 5.7.2021 : In dieser Studie wird geschildert und belegt, wie weit die Führungskräfte unseres Landes schon in den Händen atlantischer und d. h. US-amerikanischer Institutionen geraten sind. Hier wird im einzelnen belegt, wie berechtigt der Gebrauch des Wortes Einflussagent zur Beschreibung des Einflusses der USA auf die deutsche Politik ist. Die Mehrheit der Deutschen nimmt diese gefährliche Situation nicht wahr. Wie soll man eine solche Wahrnehmungsstörung nennen? Fremd bestimmt, Vasallentreue,…?
Dokument
© 2021 Deutscher Bundestag WD 1 – 3000 – 014/21
Die Young Leaders Programme von Atlantik-Brücke und Weltwirt-schaftsforum
https://www.bundestag.de/resource/blob/855616/119369c60378e929d3d597801e4c5c07/WD-1-014-21-pdf-data.pdf
Pjotr56
4. Juli 2022 @ 23:19
„Wie soll man eine solche Wahrnehmungsstörung nennen?“
„Scholl-Latour: „Wir leben in einer Zeit der Massenverblödung“ “
https://www.heise.de/tp/features/Scholl-Latour-Wir-leben-in-einer-Zeit-der-Massenverbloedung-3364167.html
Sorry, ohne Begleittext, weil wenig Zeit momentan.
Udo
4. Juli 2022 @ 17:12
New America mit den Neocons besteht darauf, dass Freiheit Gewalt gegen diejenigen
erfordert, die sie nicht gut genug verstehen. Das bedeutet, dass
Freiheit eine normative Interpretation haben muss und es den
Neoliberalen selbst überlassen ist, wie und wem gegenüber sie sie nutzen
und wie sie sie interpretieren.
Der alte Liberalismus war libertär. Der Neue ist unverhohlen totalitär.
Damit ist ziemlich klar, dass die Neokonservativen (Blinken, Nuland,
Sherman), die die Außenpolitik der Biden-Regierung dominieren, dies auch
als einen Kampf von entscheidender Bedeutung ansehen, und sie haben das
Engagement der USA weiter erhöht – bereit, die Ukrainer für ihre Ziele zu
instrumentalisieren.
ebo
4. Juli 2022 @ 17:26
US-Präsident Biden ist auch kein Waisenknabe: „I was suggesting we bomb Belgrad“ – Biden lt. Youtube